Autoren Lateinamerika Rezensionen

Macondo – Eine Liebeserklärung

Gabriel García Márquez – Die Erzählungen

Es sind exakt jene heißen Tage, an denen die Luft zum Schneiden ist, an denen die Transpiration um ein Vielfaches stärker ist als die Konzentration. Tage wie heute, an denen ich mir kaum etwas lieber wünsche als eine Hängematte im Schatten. Tage, an denen man mit einem Buch in der Hand hin und her schaukelt und zwischendurch immer wieder döst oder die Wolken, die sich nur spärlich am Himmel zeigen, beobachtet.

An diesen tropischen Tagen schweifen meine Gedanken gerne nach Macondo. Macondo ist der fiktive Ort, an dem Gabriel García Márquez‘ Jahrhundertroman Hundert Jahre Einsamkeit spielt. Der Ort, an dem eine Vielzahl seiner Erzählungen verortet sind. Ein Ort voller Groteske, mitunter voller Gewalt und immer voller Magie.

Der 2014 verstorbene García Márquez gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Magischen Realismus. Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichte 2008 eine Sammlung seiner zwischen 1947 und 1972 entstandenen Erzählungen, von denen bereits einige auf sein späteres Hauptwerk hindeuten. Wir treffen dort auf alte Männer mit Engelsflügeln, die plötzlich im Dorf auftauchen und auf die junge Eréndira, die von ihrer Großmutter an die Männer verkauft wird, um die Schulden zu begleichen, die das Mädchen bei ihr hat.  Gekonnt verwebt García Márquez in seinen Erzählungen Fantastisches mit Alltäglichen zu einer Einheit. Immer wieder kehren wir nach Macondo zurück. Etwa in der Erzählung Isabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo. Nach langen trockenen Sommermonaten beginnt es an einem Sonntag zu regnen. Und mit dem Regen kommt die Freude auf die neue Jahreszeit. Als der Regen jedoch nach Tagen nicht aufhört, verwandelt sich das Dorf in eine Schlammlandschaft, Gräber werden freigespült und mit den Leichen treibt der Geruch der Verwesung durch die Straßen. Isabel verliert das Gefühl für Entfernung und die Zeit. Alles verformt sich zu einer sülzeartigen Masse. Bis der Regen schließlich aufhört und sie die plötzliche Stille wahrnimmt. “Eine Ruhe, eine geheimnisvoll tiefe Glückseligkeit, ein vollkommener Zustand, der dem Tod sehr ähnlich sein musste.”

In seinen Erzählungen wird der meist ahnungslose Leser, ohne dass ihm das bewusst ist, in die Welt des Magischen gezogen. Oft sind es kleine Begebenheiten, in denen sich Realismus mit Fiktion, mit fantastischen Elementen verbindet. Unglaubliche Dinge, die zur Kenntnis genommen werden, ohne sie zu hinterfragen. Weitere 25 Erzählungen umfasst der Sammelband. Ein Buch voller Legenden, voll ernüchterndem Realismus, verwoben mit den unwahrscheinlichsten Handlungen. Erzählungen aus einer Welt, in der alles möglich scheint.

 

9783462040456Gabriel García Márquez: Die Erzählungen
Aus dem kolumbianischen Spanisch von Curt Meyer-Clason
Erschienen am: 21.08.2008
352 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04045-6
10,00 €

 

 

Kommentar verfassen

%d Bloggern gefällt das: