50 Jahre nach ’68, 41 Jahre nach dem Deutschen Herbst – brauchen wir heute wirklich ein weiteres Buch über die RAF? Ist nicht bereits alles analysiert und geschrieben worden, was es zu der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe zu berichten gab? Im Angesicht des heutigen Terrors, der ganz anders daherkommt als es der RAF-Terror tat und um zu verstehen wie Gruppen wie die RAF, die Revolutionären Zellen oder die Tupamaros Westberlin bzw. München entstehen konnten, ist es tatsächlich ratsam, Wolfgang Kraushaars Analyse Die blinden Flecken der RAF zu lesen. Denn bei allem, was wir darüber zu wissen meinen, blinde Flecken gibt es hier noch zuhauf.
Was unterscheidet den sogenannten islamistischen vom RAF-Terror?
Terror ist Terror, Gewalt gleich Gewalt. Klar, ein Todesopfer eines Terroranschlages islamistischer Gruppierungen ist genauso tot wie das einer sich als marxistisch bezeichnenden Gruppe. Das Leid der Angehörigen und Freunde nicht geringer. Dennoch gibt es Unterschiede, nicht nur in quantitativer Hinsicht, also die Anzahl der Opfer betreffend.
“Inzwischen ist die RAF zu einer Art Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus geworden. […] Dabei zeichnet sich seit Längerem die Tendenz ab, die Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Terrorismus einzuebnen.”
Ein großer Unterschied zwischen damaligem und heutigem Terrorismus ist laut Kraushaar die weitgehende Beliebigkeit der Opfer. Es könne heute im Grunde genommen jeden treffen, egal ob im Nahen Osten oder in Westeuropa. Zwar richten sich die Angriffe von IS, Al Quaida etc. im Allgemeinen gegen “den Westen”, doch der Großteil der Opfer besteht international gesehen tatsächlich aus Muslimen. Bei Anschlägen wird keinerlei Rücksicht genommen, wen diese letztendlich treffen, auch wenn Kinder oder ältere Menschen umkommen. Ziel ist oftmals die Zivilgesellschaft und nicht wie bei der RAF etwa Einrichtungen des Militärs, der Justiz oder hochrangige Vertreter von Politik, Wirtschaft und Finanzen.
Unterschiedliche Blickwinkel in kleinen Happen
Kraushaars Buch ist in 15 unterschiedliche Beiträge gegliedert, die unterschiedliche Thematiken erörtern wie etwa die Anfänge des Terrorismus und den (teilweisen) Übergang der ’68er-Bewegung hin zu gewalttätigen Aktionsformen oder auch die religiöse Sozialisation der späteren Terrorist*innen. Interessant ist auch die Schilderung des Besuchs des französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre bei Andreas Baader im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Dieser war keineswegs vom Philosophen geplant, sondern durch RAF-Anwälte als Solidaritätsaktion eingefädelt.
Kraushaar schafft es, leicht verständlich nicht nur zeitgeschichtliche Aspekte wiederzugeben und differenziert aufzuzeigen, welche gesellschaftliche Auswirkungen der Terror der Siebziger und Achtziger Jahre hatte. Er versteht es auch glänzend, Personenkonstellationen und die unterschiedlichen Gruppierungen nachvollziehbar darzustellen. Wer tiefer ins Detail gehen möchte, der lese Austs Baader-Meinhof-Komplex, wer mehr über die Hintergründe des Terrorismus wissen möchte, sollte hier gut informiert werden.
Wolfgang Kraushaar
Die blinden Flecken der RAF
Klett-Cotta
2. Druckaufl. 2017
423 Seiten
25,00 EUR