Sachbuch

Der vergessene Weltkrieg

Man könnte meinen, der Erste Weltkrieg sei – einhundert Jahre nach dessen Ende – ausreichend erforscht, besprochen und fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses Europas. Beschränkt man diesen grausamen Krieg, der auch als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird, auf die Jahre 1914-1918 und auf die Staaten Mitteleuropas, insbesondere auf den Stellungskrieg in Frankreich, dann trifft diese Annahme auch zu.

In den Ländern Ost- und Südosteuropas ist der Erste Weltkrieg jedoch keineswegs so präsent wie in Deutschland, Frankreich, England, Belgien oder auch den USA. Die unermesslichen Tragödien, die sich im Osten abspielten, sind aus dem Bewusstsein gestrichen. In ihrem fast 1.000 Seiten umfassenden Werk “Der vergessene Weltkrieg” behandeln die beiden polnischen Historiker Wlodzimierz Borodziej und Maciej Górny genau diesen Krieg in Osteuropa und führen zahlreiche interessante, ja wirklich spannende Quellen an, die diese Zeit nicht nur aus Historikersicht beleuchten, sondern auch aus der Sicht von zeitgenössischen Schriftstellern wie Jaroslav Hašek oder auch Kriegsteilnehmern.

“Für die Bewohner Ostmitteleuropas ist der Erste Weltkrieg Vorgeschichte ohne Bezug zur Gegenwart. Für Franzosen und Briten ist er Teil ihrer kollektiven Identität, sie begehen den 11. November, besuchen Museen und lesen einschlägige Bücher.”

Den Zeitrahmen der zwei Bände von Borodziej und Górny bilden die Jahre 1912-1923, sprich die Zeit von den Balkankriegen bis zum Vertrag von Lausanne. Dabei sehen die Historiker etwa die Konflikte zwischen dem Osmanischen Reich, Serbien, Montenegro, Griechenland, Bulgarien und Rumänien als bedeutender an für die Entstehung des Ersten Weltkrieges als das “diplomatische Spiel” nach dem Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand durch den serbischen Nationalisten Gavrilo Princip.

Warum der Erste Weltkrieg aus dem kulturellen Gedächtnis Osteuropas mehr oder weniger verschwunden ist, hat unterschiedliche Gründe. Einer ist etwa die nach dem Krieg einsetzende Welle der Nationalstaatsgründungen im Osten. Die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten wurden zu Unabhängigkeitshelden stilisiert. Darüber hinaus verwischten die Gräuel des Zweiten Weltkrieges die Erinnerung an den großen Krieg davor. Aber auch die Propaganda und Geschichtsschreibung der UdSSR und der unter ihrem Einfluss stehenden Staaten des Warschauer Pakts trugen zum Vergessen bei.

“Der Krieg galt als Episode vor der Oktoberrevolution, das Jahr 1918 als Betriebsunfall der Geschichte, weil ja in Bukarest, Riga, Warschau oder – vor allem – Prag schon damals die Kommunisten die Macht hätten übernehmen müssen.”

Mit ihrem umfassenden Werk gelingt es Borodziej und Górny, diesen vergessenen Teil europäischer Geschichte eindrucksvoll zu schildern und unser Wissen, unsere Perspektive auf den Ersten Weltkrieg um neue Gesichtspunkte zu erweitern. Darüber hinaus hilft es uns zu verstehen, wie damalige Konflikte und Auseinandersetzungen in Ost- und Südosteuropa bis in die Gegenwart hineinwirken. Das Buch ist eine absolute Empfehlung auch für Nicht-Historiker, denn nur selten bekommt man ein so spannend und flüssig geschriebenes geschichtswissenschaftliches Werk zu lesen.

 

Borodziej, Wlodzimierz / Górny, Maciej
Der vergessene Weltkrieg Europas Osten 1912–1923

wbg Theiss
960 Seiten
124 Illustrationen, 6 Karten
79,95 EUR

 

 

Fotos: Hans-Michael Tappen / flickr.com

 

 

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