“Es gibt mehr Dinge zwischen Mensch und Mensch
als zwischen Himmel und Hölle.”
Natalie Reinegger ist Betreuerin in einer psychiatrischen Anstalt – “Bezugi”. Insbesondere betreut sie Herrn Dorm, einen Rollstuhlfahrer, der sich gerne schminkt und Natalie mit Verachtung straft, da sie seiner Meinung nach knabenhaft und schrecklich aussieht und er ohnehin ein gewaltiges Problem mit Frauen hat. Wenn sie nicht im Heim arbeitet, streunt Natalie durch die nächtlichen Grazer Straßen und befriedigt wildfremde Männer oral. Währenddessen schneidet sie die Geräusche, die ihre Zufallspartner machen, auf ihrem iPhone mit und mischt die Sequenzen miteinander. Des öfteren bringt sie von ihren Touren auch benutzte Kondome mit nach Hause.
Einsamkeit
Zuhause schaut sie mit Vorliebe Live-Sendungen. Welche auch immer. Hauptsache live. “Der Drang nach einer Live-Sendung wurde zu dieser Zeit unbeherrschbar stark.” Ich kenne das von älteren Leuten, die alleine leben. Morgens wird der Fernseher eingeschaltet und zwar tatsächlich am besten eine Live-Sendung. Da ist man dann mittendrin. Da ist man nicht alleine. Manche schauen das Musikantenstadl und schunkeln mit imaginären Sitznachbarn. Andere diskutieren als Special Guest in politischen Talkrunden mit. Was Schunkler und Debattierer gemein haben ist das Gefühl der Einsamkeit. Isolation. Das Gefühl nicht mehr mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Das Fernsehen wird zum Schlupfloch in die wirkliche Welt, die Welt da draußen.
Natalie erscheint mir als zutiefst einsame Person. Nicht aufgrund fehlender sozialer Kontakt, sondern weil sie wie abgeschnitten von der Welt zu sein scheint. Deshalb die Live-Sendungen und alles Weltüberspannende, das sie mag. Deshalb auch die unverbindlichen Sexualkontakte an den Abenden, an denen sie streunen geht. Und da bestätigt Fromm, wie ich finde, mein Gefühl: „Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.“ Ich denke, es lässt sich wohl behaupten, dass es in Natalies Leben keine wirklich von Liebe geprägte Beziehung zu einem anderen Menschen gibt. Zumindest erfahren wir nichts davon. Keine Liebe – keine Wiedervereinigung – folglich Isolation. Ausweg: Dinge, die ihr das Gefühl geben, an der Welt teilzuhaben und die vermeintliche Vereinigung beim Oralverkehr. Der sexuelle Akt „wird zum verzweifelten Versuch, der durch das Abgetrenntsein erzeugten Angst zu entrinnen, und führt zu einem ständig wachsenden Gefühl des Abgetrenntseins, da der ohne Liebe vollzogene Sexualakt höchstens für den Augenblick die Kluft zwischen zwei menschlichen Wesen überbrücken kann“ (Erich Fromm). Und dieses Gefühl konserviert sie in den Mitschnitten, die sie mit ihrem iPhone macht.
Eine Rache, die keine mehr ist
Regelmäßig wird Herr Dorm von Christoph Hollberg besucht, mindestens einmal wöchentlich. Die Beziehung Hollberg – Dorm ist äußerst abstrus. Dorm war Hollbergs Stalker und hat dessen Frau nicht nur an den Rand der Verzweiflung, sondern letztlich zum Selbstmord getrieben. Wenn Hollberg zu Besuch kommt, schminkt sich Dorm besonders intensiv, alles muss passen für den von ihm Angebeteten. Was Dorm nicht zu merken oder zu ignorieren scheint, ist dass Hollberg sich während seiner Besuche und den gemeinsamen Spaziergängen äußerst ironisch verhält und ihn auf Distanz hält. Und so wird Natalie Teil dieser merkwürdigen Beziehung, die im Heim stets als Arrangement bezeichnet wird, und Zeugin einer Art Rache auf Raten, einer Rache, die so endlos lang gezogen ist, dass sie scheinbar keine Rache mehr sein kann.
Verstörend, beunruhigend und bisweilen ekelerregend
Auf gut 1000 Seiten beschreibt Clemens J. Setz nicht nur die Geschichte eines Stalkers und dessen Opfers. Natalie, die Protagonistin, die in diese Stalking-Rache-Geschichte hineingesogen wird, ist der Antiheld, der Fragen aufwirft wie die nach der Normalität. Was ist Normalität, was ist abweichend und was krank? Darüber hinaus gelingt Setz, der selbst ein Jahr lang als Zivildienstleistender in einem Heim gearbeitet hat, ein Porträt der Abläufe und Strukturen, des teilweise gnadenlosen Alltags in Pflegeinstitutionen. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ist ein Roman, der einen verstört und unruhig machen kann. Manche Stellen erregen Ekel, lassen aber tief in die Psyche der Protagonistin blicken. So tief, dass man bisweilen das Gefühl hat, ähnliches wie das Beschriebene zu erfahren, der Roman scheint unmittelbare Auswirkungen auf einen selbst zu haben. In der FAZ beschrieb Jan Wiele das folgendermaßen: “Je mehr man liest, desto öfter beschleicht einen das Gefühl, dass das Beschriebene auch auf einen selbst zutreffen könnte. Das ist das Phänomen der angelesenen Krankheit, der ‘Google Disease’, die Menschen bei sich selbst diagnostizieren und damit Ärzte zur Verzweiflung bringen.”
Clemens J. Setz
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
1020 S., geb., 29,95 €.
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