Eine Kindheit in Kalabrien
Gino Chiellino hat sich vor allen Dingen als Lyriker und Literaturwissenschaftler hervorgetan. Jetzt ist sein Roman “Der Engelfotograf – Eine Kindheit in Kalabrien” im Folio-Verlag erschienen. Das Buch handelt von einem Bauernsohn aus dem italienischen Süden, genauer gesagt aus Kalabrien, wo auch der Autor geboren wurde. Als einer von wenigen erhält der Junge die Chance, in Norditalien ein kirchliches Internat zu besuchen und eine höhere Bildung zu erhalten. Jedoch hat er für die sich ihm eröffnende Welt der Sprache und der Bücher einen hohen Preis zu zahlen bis er sich schließlich von allem, was ihm nicht wichtig ist lossagt.
Chiellinos Roman hat in gewisser Weise autobiografische Züge. Er beschreibt vor allem die Entwicklung der Gefühlswelt des Protagonisten als parallel zu seiner eigenen Entwicklung. “Während seiner Kindheit ist seine Gefühlswelt durch Natur, Tiere und Gegenstände geprägt. Sprache hat bis zu seiner Abfahrt nach Norden keine Rolle gespielt. In der Klosterschule erfährt er als erstes, dass was ihn, seinen Körper bis dahin geprägt hat, kein Wert hat, denn der Mensch besteht aus Sprache. Sprache als Weg zum Gott, Sprache als Mittel, um den Beruf als Missionar zu erlernen und Sprache, um mit den Menschen zu kommunizieren. In der wiederholten Beichte wird er erfahren müssen, dass er sich auf Sprache nicht verlassen darf und dass Sprache ihn nicht retten kann. Daher entscheidet er sich zu seinen Freunden am Fluss zurück zu finden und verlässt die Klosterschule. Er leidet, weil ein Seelenvergifter ihm die Berufung, das heißt den Glauben an Gott durch Missbrauch zerstört hat und weil die anderen Patres ihn in seinem Kampf, um seine Berufung zu retten, im Stich lassen. Mir geht es wie dem Protagonisten, ich habe mich von all dem los gesagt, was ich in meinen Leben nicht brauche.” Mit seinem Roman möchte Chiellino den Schmerz vermessen. Um den Schmerz spürbar zu machen, soll erfahrbar werden, was den Menschen, dem der Schmerz zugefügt worden ist, geprägt hat.
Wie sehr Sprache einen Menschen prägt, musste Chiellino wohl selbst erfahren. In Süditalien geboren und aufgewachsen kam er 1969 das erste Mal nach Deutschland. “Als Student hatte ich sehr früh erkannt, dass die Führer der 68er Bewegung die Bauern- und Handwerkersöhne aus dem Süden missbrauchten, um politisch oder beruflich Karriere in den Parteien, an den Universitäten, im Kulturbetrieb zu machen. Daher habe ich kaum eine Möglichkeit erhalten, meine Kompetenzen als einer der Bestabsolventen meines Jahrgangs weiter entwickeln zu können.” Er hätte vielleicht Gymnasiallehrer werden können, dies aber auch erst nach einer unberechenbar langen Wartezeit. So ist er nach Deutschland ausgewandert, wo er anfing zu schreiben – auf Deutsch. Sogenannte Migrantenliteratur war damals alles andere als anerkannt. “Die führende Zeitschriften, Verleger oder Schriftsteller, mit denen wir damals Kontakt aufgenommen haben, konnten es nicht einmal verstehen, wieso wir versuchten auf Deutsch zu schreiben. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass wir in der Lage waren, eine interkulturelle Literatur in deutscher Sprache zu schaffen, genauso wie es sie in französischer oder englischer Sprache gab, deren Autoren ins Deutsche übersetzt wurden. Anders haben sich engagierte Verlage verhalten. Sie haben uns die erste kollektive oder persönliche Veröffentlichung ermöglicht”, erzählt Chiellino. Heute sieht es anders aus, interkulturelle Literatur ist gemeinhin anerkannt und wird in großen Verlagen veröffentlicht.
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