Interview Sachbuch

“Hass und Gewalt sind schon älter als das Internet”

Interview mit Marlon Grohn zu seinem neuen Buch “Hass von oben, Hass von unten – Klassenkampf im Internet”

Haben wir in unserer Gesellschaft ein Hass-Problem? 

“Unsere” Gesellschaft ist ja schon ein Euphemismus. Unsere, also die Gesellschaft des Proletariats gibt es seit 1990 nicht mehr. Und wenn man jetzt fragt, ob die jetzige BRD-Gesellschaft ein Hass-Problem habe, dann muss das verneint werden. Diese Gesellschaft verwaltet den Hass seit Jahrzehnten und hat offenbar kein Problem damit. Probleme mit dem Hass haben einzelne Menschen, mit dem Hass der anderen, aber auch mit dem eigenen. Hass, der einen wirklich trifft, muss ja schon von einem Menschen ausgehen, der einem irgendwie nahesteht. Also wenn irgendwelche Fremden im Netz herumwüten, naja, so innig ist mein Verhältnis zu denen jetzt nicht, als dass mich deren Hassgefühle groß kümmern würden, nur weil sie sie auf mich projizieren. Was heute alles so als Hass durch die Medien geistert, ist meistens einfach nichts anderes als die Sandkasten-Psychologisierung von gesellschaftlichen Macht- und Ohnmachts-Verhältnissen, die man als solche gern verdecken will und stattdessen das schwer zu ergründende Innere von Individuen anführt, in denen es irgendwie ganz mysteriös und ohne Ursache stark rumore. Da wird der Hass zum Charakterfehler, den man durch gut zureden, Therapie oder Glauben an die bürgerliche Demokratie meint auskurieren zu können. Dass es eventuell gerade ein System von Gut-Zureden, Therapie-Schulmeisterei und bürgerlichem Parlamentarismus ist, das jemanden zum Hassen bringt, scheint da keinem so recht aufzugehen.

Denn der Zustand des Hasses ist schließlich einer, in dem die Kommunikation verweigert wird, man verweigert den anderen den Respekt, ist vom Glauben abgekommen, sieht keinen Sinn mehr im Sinn, hat kein Interesse mehr an sozialer Kooperation. Also Hass als anti-gesellschaftlicher Affekt, nur eben notwendig ausgetragen innerhalb der Gesellschaft. So begriffen ist Hass schon was sehr linkes auch – Kommunisten z.B. loben den Klassenhass seit je als einen nötigen Motor der Revolution, etwa als Gegenkonzept zum Klassenfrieden der Sozialdemokraten.

Also, ja: es gibt viele Leute, die Probleme haben in dieser Gesellschaft. Aber ob’s einzig der Hass ist, der diese bereitet, möchte ich doch bezweifeln. Ich denke, der allgemein normale, überall präsente Hass, zeigt vielmehr, dass diese Gesellschaft selbst das Problem ist, nicht einzelne Hassgefühle, die bei Leuten aufkommen, die ihre reale Lebenssituation in dieser Gesellschaft eben als sehr hässlich erleben. Da ist der Hass wohl eher Ausdruck, also Folge von Verhältnissen, und nicht die Ursache der Verhältnisse, wie das heute so gern behauptet wird, wenn es heißt: “Aus Hass wurde Terror” oder “der Mord geschah aus Hass” usw. Also nee, Morde geschehen schon aus Gesellschaften heraus, werden verübt durch Individuen, die in dieser Gesellschaft erzogen und aufgewachsen, sozialisiert wurden mit den vielgelobten bürgerlichen Werten usw.

Was tun? Hass verbieten geht wohl schlecht.

Eben. Man wird sich wohl mit den Hassenden ins Vernehmen zu setzen beginnen müssen. Das kann ja durchaus produktiv sein. Deine Frage “was tun?” rief z.B. auch schon ein gewisser Herr Lenin auf. Der unterbreitete dann auch den einen oder anderen praktischen Vorschlag, wie mit dem Hass umzugehen und wie er etwa von fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräften zu nutzen sei – der “Klassenhass” war für ihn “aller Weisheit Anfang”. Ich finde, Lenin und die Bolschewiki haben das Hassproblem doch auf ihre Art sehr gut in den Griff bekommen damals. Daran ließe sich doch anknüpfen als politische Linke, statt nun im Bunde mit Liberalen das Proletariat, also jenen gesellschaftlichen Gruppen, bei denen sich der Hass aus den Lebensumständen ja immer wieder ergibt, mit Kampagnen “gegen den Hass” Moralpredigten zu halten. Also statt den Hass verbieten oder weg therapieren zu versuchen, müsste man ihn produktiv wenden, so dass einmal Verhältnisse erreicht werden, in denen vielleicht nicht mehr soviel Hass aufkommt und dieser sich auch harmloser äußert. Ich denke, Linke könnten vielleicht mal wieder ernsthaft Revolution erörtern, statt dem System praktische Ratschläge für die konterrevolutionäre Hass-Bekämpfung zu geben.

In deinem Buch „Hass von oben, Hass von unten“ schreibst du zur Berichterstattung über den Mord an Walter Lübcke, dass wenn hier von einer Tat die Rede ist, „die aus Hass erfolgte, handelt es sich damit bereits um ein Produkt jener der liberalen Gesellschaft eigenen Ideologie, die auch den Faschismus nährt.“ Kannst du das kurz erläutern? 

Die Ideologen des Liberalismus, also die Verteidiger des kapitalistischen Status Quo, reden ständig von Hass und etablieren damit eben einen gedanklichen Mechanismus, der solche Taten nur noch innerhalb dieses Framings, dieses Narrativs (d.h.: dieser Ideologie) wahrnehmen lässt: “Hass” als Ursache auszumachen bedeutet immer, den gesellschaftlichen Boden und die ganz unemotionale Gedankenwelt solcher Täter an den Rand zu schieben. Diese Mörder sind ja meistens keine Kranken oder Irren, sondern verfolgen kühl und rational einen Plan, der auch historische Vorlagen etwa im Faschismus hat: sie wollen ein Individuum auslöschen, weil sie es als Vertreter oder gar Verursacher irgendwelcher, meist eingebildeter sozialer Tendenzen wie der “Überfremdung” sehen. Also das sind, im Rahmen ihrer ideologischen Falschheit natürlich, recht rationale Gedankenfolgen, die auf Hass zu reduzieren eigentlich sehr verharmlosend ist. Aber diese Reduktion aufs Gefühl, auf die Tat im Affekt usw., ist natürlich auch wieder sehr im Sinne der herrschenden bürgerlichen Klasse: damit können handfeste materielle Verhältnisse in den Hintergund gedrängt und die Ursachen des Übels bei einzelnen fehlgeleiteten Individuen ausgemacht werden.

Die Verbindung zwischen liberaler Gesellschaft, ihrer bürgerlichen Ideologie und dem Faschismus ist also: Auf diesem einmal angeschobenen Zug der Fehl-Erklärung von gesellschaftlichen Taten als “aus Hass” entstandene, springen dann die Faschisten auf: auch sie ziehen etwa gegen “linken Hass” zu Felde, wenn nach einer Antifa-Demo eine Mülltonne brennt oder geplündert wurde, also machen einzelne, von dieser Gesamtgesellschaft zugerichtete Personen und ihre Gefühle für Verhältnisse verantwortlich, die ja nur eine dieser Gesellschaft wesenseigene Reaktion innerhalb dieser Verhältnisse sind und nicht irgendeine überhistorische Konstante, eine Art Naturkatastrophe, wie das diese Gefühls- und Hass-Huber behaupten.

Also in der Welt der marxistischen Vernunft ist seit geraumer Zeit bekannt, dass solche Taten nicht einfach “aus Hass erfolgen”. Sondern dass sie Produkt sind von Leuten, die in dieser liberalen Gesellschaft sozialisiert, erzogen, in der Schule unterrichtet wurden, dort ganz real und materiell mit all ihren Problemen leben und sich auf dieser Grundlage die politischen und sonstigen Weltdeutungen auch für ihre Probleme gebildet haben. Von Hass oder Internet als Ursache aber müssen Menschen, nämlich Liberale reden, die eine Gesellschaft verteidigen, die die faschistische Option fortwährend als Ass im Ärmel hat, etwa um politisch zu reagieren, wenn sich kapitalistische Krisen abzeichnen. Ich erinnere daran, dass, wenn jetzt wieder viel moralisierend über die AfD geklagt wird, man vielleicht mal schauen sollte, dass es da ein Wirtschaftssystem gibt, dessen Gewinner, dessen vom Staate gefördertes Großunternehmertum mit dem von den arbeitenden Massen enteigneten Vermögen eine solche Partei finanzieren und damit überhaupt erst aufbauen und ermöglichen, dass sie ihre Propaganda wirkmächtig verbreiten kann.

Man könnte z.B. auch mal die Liberalen von heute, die sich so über Hass im Netz und linke Gewalt und was weiß ich noch aufregen, mal daran erinnern, dass ihre Partei, die FDP, in der frühen BRD vor allem ein Auffangbecken für Altnazis gewesen ist, sie daran erinnern, wie die sogenannten Wirtschaftsliberalen der 30er Jahre, wie etwa die Herren Thyssen und Krupp, Hitler eigentlich ganz nice fanden, so sehr, dass sie sich mit ihm zum Cognac trafen und seiner Partei ein paar Milliönchen spendeten, weil die NSDAP versprach, dass es wirtschaftlich sehr liberal zugehen werde im Lande, mit der Unterstützung von Kriegstechnik-Start-Ups und Förderung von Bombenbau-Entrepreneurs. Dass also der liberale deutsche Staat bisher sehr wohl immer die faschistische Option mit einkalkuliert hat, und er seiner Art zu wirtschaften eben inhärent ist. Und wenn sich dann, wie erst vor einem Jahr im Thüringischen Landtag, ein FDP-Abgeordneter von den Faschisten zum Ministerpräsident wählen lässt, dann ist das kein Demokratie-Betriebsunfall, kein “Dammbruch”, sondern eben ganz und gar liberale Tradition.

Was kommt zuerst – Hass oder Ideologie? Also sucht sich ein Hass verspürender Mensch die passende Ideologie oder produziert eine Ideologie Hass im Menschen? 

Man kann das sicherlich nicht so einseitig auflösen, also jetzt sagen, “Heureka, die Henne war vor dem Ei da!” Sondern es ist eher eine Wechselbeziehung zwischen Hass und Ideologie. Ich würde sagen, weder gibts zuerst die Ideologie und darauf folgend den Hass, noch umgekehrt – sondern zunächst gibt es reale materielle gesellschaftliche Beziehungen zwischen Menschen, z.B. zwischen Kapital und Arbeit, zwischen oben und unten usw. Darauf baut sich dann Ideologie auf. Und auf einer Nebenspur, die immer mitläuft, im Inneren jedes Einzelnen, gibt es einen Gefühlshaushalt, der von diesen äußeren, materiellen Verhältnissen geprägt und reguliert wird. Und Ideologien bedienen sich der Produkte dieser Gefühlshaushalte, nehmen also die ohnehin vorhandenen Hass- und sonstigen Gefühle auf und verstärken sie mitunter vielleicht auch, geben ihnen einen politisch formatierten Ausdruck, eine bestimmte Richtung. Das findet z.B. schon statt, wenn die Bild-Zeitung einfach wieder irgendeine auf Affekte schielende Schlagzeile druckt, da werden all die emotionalen Apparate aktiviert, die wiederum bestimmtes soziales Verhalten hervorruft, was dann gleichzeitig auch wieder Ideologie fortschreibt, die dann sicher auch wieder auf die Gefühle und das Verhalten zurückwirkt.

Es bleibt also schon dabei, dass das (gesellschaftliche) Sein das Bewusstsein (d.h. die Ideologie, die Welterklärungen, die Gefühle) bestimmt, und nicht umgekehrt. D.h. die Stellung der Person innerhalb des Produktionsprozesses, der Familie, des Bildungssystems usw. bestimmt, ob, inwiefern und welche Art Hass sie empfindet und wie sie damit umzugehen vermag, und nicht der Hass für sich bestimmt, was Leute so materiell tun und welche Ideologie sie wiederum aus diesem Tun folgern.

Du vergleichst den sogenannten Netzhass mit literarischen Werken wie etwa Goethes Werther, nach dessen Veröffentlichung es zu einer Reihe von Suiziden kam und man in der Folge vom „Werther-Fieber“ sprach und auch heute noch vom „Werther-Effekt“ spricht. Was dieses Buch bewirkt habe, hätte der Netzhass in „zwei Jahrzehnten härtester Troll-Anstrengungen“ nicht geschafft. Gibt es also keine Gewaltverbrechen, die aus Hassrede, aus dem Aufwiegeln in Foren und Facebookgruppen etc. resultieren? 

Das ist jetzt natürlich so ein bißchen diese Adorno-Spiegelgesprächs-Frage: 

SPIEGEL: Herr Grohn, bis gestern schien die Welt noch ohne Hass…

GROHN: Mir nicht.

Also der Hass und die Gewalt sind schon älter als das Internet. Dass Leute sich in irgendeiner Weise, irgendwo zusammenrotten und sich gegenseitig aufwiegeln, ob nun per Chatgruppe auf Facebook, per Telefon oder Kneipentreff, auf dem Reichsparteitag oder eben ganz rechtsstaatlich und demokratisch legitimiert bei der Polizei, in Burschenschaften oder beim Militär, ist ja nichts neues.

Ich will gar nicht behaupten, dass nicht auch “im Internet” Gewaltverbrechen geplant werden können, das wird wohl so sein. Es ist jetzt aber auch nicht so, dass Facebook-Pöbeleien der Einstieg ansonsten völlig untätlich gebliebener Individuen in den Terrorismus wären. Die Frage ist ja eher, warum man meint, “das Internet”, also eine bestimmte Kommunikationstechnik, sei ursächlich für Gewalt verantwortlich. Ich zeige ja im Buch, dass es diese Gewalt schon immer gegeben hat. Vielmehr handelt es sich doch um eine uralte Taktik bürgerlicher Gesellschaften, den Feind immer außen ausfindig zu machen, immer außerhalb der Mitte der Gesellschaft nach Übeltätern zu suchen, statt zu sehen, dass diese Gesellschaft selbst die Übeltaten aus ihrer Mitte hervorbringt. Und ich wäre ganz froh, wenn man sich diese historischen und sozialen Ursachen mal genauer anschaute, statt immer nur, wie bei Goethes Werther, die Kunst oder, wie beim sogenannten Netzhass, die Technologie verantwortlich zu machen und jetzt also neue Gesetze gegen Pöbeleien zu verabschieden. Die Politik sagt ja auch nicht: “Wir schaffen jetzt das Briefgeheimnis ab, überwachen die Kneipen, und hören alle Telefonate ab”, nur weil sich da Leute eventuell zu Terror-Taten verabreden könnten. Wobei, hups, dieser Staat tut sowas eventuell bisweilen doch, z.B. mittels Geheimdiensten. Deswegen finde ich es beachtlich, wenn ausgerechnet Linke da jetzt mehr Law & Order fordern.

Denn die Terror-Planung, wenn sie im Netz stattfindet, wird ja nicht in öffentlichen Drunterkommentaren ausgeübt. Sondern ohnehin in nicht-öffentlichen Chatgruppen. Trotzdem wollen die linksliberalen Netzhasskritiker ja die beleidigenden Kommentare weghaben. Nur ist Beleidigung noch kein Terror. Und solange man Emails schreiben kann, wird man auch Droh-Mails schreiben können. So wie man auch schon immer Drohbriefe schreiben konnte. Also Drohungen, Gewalt usw. sind auch ohne Netzhass existent. Das heißt, man müsste sich mal genauer anschauen, was das für Verhältnisse sind, in denen Leute solche Hass-Bedürfnisse entwickeln. Und ich bezweifle, dass die Leute, deren Aktivismus sich darin erschöpft, böse Comments zensieren lassen zu wollen, daran so ein starkes Interesse haben. Also diese Konzentration aufs Netz lenkt meines Erachtens nur ab.

Aber wenn man schon davon reden will, könnte man sich einmal überlegen, ob nicht das Rumgehasse im Netz auch ebenso viel, wenn nicht gar mehr an realen Gewalttaten verhindert als hervorbringt. Weil doch z.B. Leute, die im Netz hassen, sich da abreagieren könnten und nicht noch zur Waffe greifen müssen. Vor einigen Jahrzehnten wussten selbst Linksliberale noch, dass es besser ist, einen Text zu schreiben, statt ein Messer zu nehmen. “Ich werfe keine Bomben, ich drehe Filme”, sagte Rainer Werner Fassbinder. Und der in Sachen Psychologie nicht gerade unbeschlagene Sigmund Freud lobte das Pöbeln sogar explizit, als er sagte: “Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.”

Entwickelt sich nicht aber im Netz eine gewisse Dynamik, insbesondere angefacht durch anonym agierende Personen, die in realer Gewalt münden kann? 

Wer mein Buch gelesen hat, wird kaum mehr denken, sein Autor glaube an das Ammenmärchen, dass erst Netz-Dynamiken nötig seien, um reale Menschen gegeneinander aufzuhetzen oder deren Verhältnisse in Gewalt münden zu lassen.

Ich wüsste auch nicht, wieso in einem Land, in dem ganz reale Personen wie Höcke oder Gauland ganz legal Millionen Leute aufhetzen dürfen, nun plötzlich anonyme Kommentare, die von 17 Usern gelesen werden, in Gewalt müden sollten. In Wahrheit ist es so, dass die Bundesregierung einfach mal die Armee in irgendwelche Länder schickt, um dort Leute zu massakrieren. Da heißt es in den Nachrichten ja auch nicht, die Bundesregierung müsse verboten werden, deren Treiben entfalte eine schlimme Dynamik, die in Gewalt mündet usw.

Das Problem mit dem Internet ist eher folgendes: Viele Menschen haben es sich in den sozialen Netzwerken relativ gemütlich eingerichtet, als eine Art Second Life. Man geht kaum noch vor die Tür, und weil man nur noch im Netz ist, meint man, der Hass käme aus dem Netz hinein in die eigene warme Stube. Dabei ist der Hass ja eh da draußen, und er bildet sich eben im Netz ab. Aber dass er da als einzelnes Phänomen so herausgegriffen wird, dass er als so omnipräsent gesehen wird, hat wie ich finde damit zu tun, dass man diese halb virtuellen, halb die reale Person spiegelnden Existenzen in den Netzwerken inzwischen als wirkliche oder maßgebliche oder einzige Existenz empfindet oder sogar als Existenz, die mit der realen Person übereinstimmt. Sowas halte ich für bedenklich, wenn Simulationen von erwachsenen Menschen als echt empfunden werden. Das ist ein Fetischismus im Marx’schen Sinne, der da am Werke ist: Das Netz stellt in Wahrheit ein Verhältnis zwischen Menschen dar; nun wird dieses Netz aber mystifiziert als etwas eigenes, neuartiges, “Neuland” (Merkel), als ein ORT, an dem sich Menschen aufhielten und nicht als ein Kommunikationsmedium, das sie durch ihre Wortbeiträge selber bilden. Also viele beginnen, die Existenz in den Netzwerken als real zu betrachten, z.B. weil die Gefühle, die da durch anderleuts Kommentare ausgelöst werden, ja echte sind. Daher dann auch diese Emotionalität und die Unsachlichkeit, die nun nicht erst der Hassende ins Netz brachte, sondern die Boulevard-Skandalisierungen der alteingesessenen Emotionalitäts-Terroristen von Bildzeitung und co.

Man sieht ja jetzt schon, dass von den Anti-Hass-Gesetzen, dem Netz-DG usw, viele Antifa-Seiten betroffen sind, dass es linke User sind, die wegen angeblicher Hass- und Gewalt-Inhalte, wegen vermeintlichen Hate Speechs gesperrt werden. Was natürlich bitter ist, weil es ja leider viele dieser Linken selbst waren, die sich so unscharf und naiv “gegen Hass im Netz” engagiert haben, weil sie dachten, damit könne man rechte Hetze unterbinden. 

Es kommt aber eben immer darauf an, wer da die Inhalte durchsucht und welche Definition diese Fahnder von Hass und Hetze haben. Also ich wage mal die Behauptung, dass jene Instanzen, die für sowas eingesetzt werden, also Polizei, Zensoren, Staatsanwaltschaft usw. nicht gerade allzu große Sympathie für Linke hegen.

D.h. es kommt auch darauf an, welchen Staat man um solche Maßnahmen “gegen Hass” erbittet. Und das heißt dann eben auch, dass, wenn man die bürgerliche Regierung, den Staat der Monopole, von links um stärkere Hassbekämpfung anfleht, man als Ergebnis eben eine bürgerliche Hassbekämpfung, eine der Monopole bekommen wird und natürlich dann auch in der Zukunft diese Regierung und dieser Staat auf diese politischen Mittel und Entscheidungen zurückgreifen wird, wenn sie einmal legitimiert sind. Sich als Linke vom bürgerlichen deutschen Staat einen Antifaschismus zu wünschen, wird wohl als erstes mal wieder dazu führen, dass Kommunisten verfolgt werden. So läuft das im liberalen Deutschland.

Du vergleichst Hass im Netz mit Hass in der Kunst. Kann man aber Drohungen und Gewaltfantasien, die jemand etwa auf Facebook äußert mit der Handlung eines Horrorfilmes vergleichen? 

Vergleichen kann man ja alles. Ich würde es sogar insofern auf die gleiche Stufe stellen wollen, als ja beide Formen mit Abreaktion von Aggressionen arbeiten. Die eine Form, die im Netz, ist sicherlich direkter – zumindest für Leute, die ihre Accounts mit ihrer Privatperson kurzuschließen gewohnt sind. Und Phänomene wie Drohungen und Gewaltphantasien wiederum kann man nun jeden Tag als Selbstverständlichkeit erfahren, dafür braucht man nicht erst ins Netz zu gucken. Also was früher die Filme, die Ballerspiele, zu Goethes Zeiten die Bücher waren, die die Jugend angeblich verderbten, soll heute dieser ominöse Internethass sein. Das ist eigentlich relativ einfach als Popanz zu erkennen, der von materiellen Verhältnissen ablenkt. Wenn die Kanzlerin ganz unumwunden davon spricht, das Netz sei “für uns alle Neuland”, dann drückt sie damit ja nur aus, was im bürgerlichen Bewusstsein, also in den Köpfen auch jener Leute, die da so herum regieren, für Vorstellungen von der Netzwelt herrschen. Und dann kommt halt schnell die entsprechende Gesetzgebung: Wenn das Internet, weil man es nicht so recht versteht und es auch gar nicht verstehen will, erstmal als Ursache von Verbrechen ausgemacht ist, lässt es sich da natürlich sehr gut eingreifen, “gegen Hass und Hetze”, also im Zweifel gegen jede Ansicht, die irgendwer für verletzend oder Hass hält. 

So trifft es dann schnell auch Linke, die irgendwelche Memes teilen. Die daraufhin von Springer und Co die Polizei auf den Hals gehetzt bekommen wegen “Gewaltphantasien”, so als seien da die Phantasien das Problem, nicht eine reale Gewalt, die ja doch eben in 99% der Fälle von oben kommt und nicht von unten. Ironischerweise also ist es die Hetzpresse schlechthin, die nun wieder irgendwelche Jugendlichen im Netz der Hetze bezichtigt, weil sie deren Witze nicht kapiert.

Die Frage beim Verhältnis von Hass und Kunst ist aber auch, inwiefern nicht ebenso die Netz-Trolle ihre Praxis als Kunst sehen. Wenn man Kunstfreiheit hat, heisst das eben auch, dass der Künstler selbst definieren kann, was Kunst ist . Also wenn wir mal davon ausgehen, es gibt einen großen Diskurs, die liberale, plurale Öffentlichkeit. Dann sind da relativ starke Stimmen, etwa die sich als Satire-Magazin labelnde Titanic, die dann auf einem Cover mit Politikerfoto dazu “aufruft”, “die Bestie abzuknallen”. Und der sich ebenfalls als Satiriker labelnde Jan Böhmermann bezeichnet vor Millionen Zuschauern im Fernsehen einen ausländischen Staatschef als “Ziegenficker”, “dumme Sau”, “verlaust und zoophil”. Also sowas ist größtenteils von der Kunstfreiheit gedeckt, weil Satire. Mir soll das recht sein, aber es leuchtet mir nicht so ganz ein, warum nun ein Troll-Kommentar auf Facebook, wo irgendwer irgendwen als Arschloch o.ä bezeichnet, plötzlich schlimmerer Hass oder gefährlicher sein soll. Nur ist es halt so, dass erstere, also Künstler und Satiriker, Solidarität, Auszeichnungen usw. bekommen, während die letzteren im ärgsten Fall mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen. Also solche Ventile, sich seinem Unmut mittels juristisch korrrekter Formen wie Satire, Kunst, Literatur usw. Luft zu verschaffen, stehen z.B. Mitgliedern der Unterschicht oder überhaupt Leuten außerhalb dieser Medien-Bubbles einfach weitaus weniger zur Verfügung als Leuten, die gut ausgebildet und geschult bei den Medien arbeiten und ihre Hass-Ausbrüche da auch von offiziellen Stellen als sehr gut geschützt sehen können. 

Was ist deiner Meinung nach die Lösung, damit Hass als Symptom erst gar nicht mehr so stark auftritt?

Naja, wir alle hassen ja vieles. Eben auch im Netz, ich weiß nicht wo da jetzt das besondere Problem sein soll. Höchst uninteressante Leute labern höchst uninteressanten Stuss, das wird dann “Soziale Medien” genannt. Wer da keinen Hass empfindet, muss mal dringend zum Arzt. Also Hass an sich ist ja erstmal ziemlich harmlos. Den gibts ja überall, bei allen, als Gefühl. Das wird immer so hochgekocht innerhalb dieser Boulevard-Emotions-Industrie. Man will da immer die großen “Gefühle” Hass, Neid, Gier usw., auf die man das Gesellschatliche runterbringt. Deshalb ist es für mich auch so ein Irrsinn, dass plötzlich Gewalttaten, Morde, Faschismus usw. alles unter “Hass” abgestempelt wird. Weil diese Sachen find ich nicht so harmlos wie den bloßen Hass, oder wenn jemand einen anderen im Netz anpöbelt. Aber es gibt da eine Tendenz von Liberalen – sowohl linken als auch rechten – diese Phänomene – also irgendwelche Pöbelkommentare  einerseits und andererseits Morde von Rassisten – in einen Zusammenhang zu stellen und als EINEN Komplex darzustellen, nämlich als “Hass” , und sich diesen Zusammenhang vorzustellen als Ursache-Wirkung. Also das unhöfliche Twittern soll zur direkten Folge haben, dass Terror gegen reale Menschen, Gewalt ausgeübt werde. 

Dass minutiös geplante Terror-Anschläge oder katlblütige Morde schon als “Hass” verharmlost werden, zeigt ja, wie begriffslos diese ganzen Akteure sind, die sich hier seit Jahren über den Netzhass beschweren. Das sind ja oft Intellektuelle, deren Metier angeblich die Sprache ist und die diese deshalb überbewerten. So sind dann “Worte” an Taten schuld, nicht mehr Täter. Oder die Technologie Internet, nicht einzelne Subjekte, die im Kapitalismus, also in Konkurrenzgesellschaften, d.h. im Zweifelsfall unter Bedingungen der Vernichtungskonkurrenz, also in Gewaltstrukturen vergesellschaftet wurden. 

Jedenfalls bezweifle ich, dass so unbedarfte Aktionen wie “gegen den Hass” oder “organisierte Liebe”-Kampagnen – das gibts ja wirklich – die Lösung sind.  Aber genau nach solchen rein aktivistischen, Null Komma Nichts bringenden “Lösungen” steht solchen liberalen Hanseln der Kopf: Das sind alles nur Instrumentarien, um die eigene Armseligkeit zu normalisieren. Man will einstmals als berechtigte Einsprüche verstandene Kommentare von vornherein als ungültig abstempeln, weil sie einer als Normalität behaupteten Atmosphäre der Liebe oder Nettigkeit nicht entsprechen. Diese Nettigkeits-Kartelle sind sowieso das allerschlimmste: die sehen, es gibt einen tendenziellen Fall der Nettheits-Profitrate und versuchen dagegen anzugehen, indem sie Preispolitik gegen den Hass betreiben und ihn damit zu entwerten versuchen. Diese Leute machen aus ihrer Not, also Dummheit, eine Tugend, also Moral.

Deshalb weiß ich auch nicht, ob das wirklich so erstrebenswert ist, eine “hassfreie” Gesellschaft oder ähnliches. Symptome sind ja notwendig da. Ich erwähnte schon Lenin. Natürlich könnte eine leninistische Praxis eine Gesellschaft erwirken, in der viele dieser Klassengesellschafts-Symptome nicht mehr auftreten und Verhältnisse zu schaffen versuchen, in denen Menschen nicht mehr unter so hässlichen Bedingungen leben müssen, dass sie den Hass als einziges Mittel sehen. Das heißt, man sollte seine Energien, auch die des Hasses, eher darauf konzentrieren, wie man mit diesen Scheißverhältnissen endlich Schluss macht. Das hieße als erstes, dass man mal von diesen ganzen Hippie-Ideen weg kommt und eben Marxist wird. Das wäre dann auch die Art von Wissenschaft, die es mit dem Phänomen Hass adäquat aufnehmen kann.

Marlon Grohn

Hass von oben, Hass von unten Klassenkampf im Internet

176 Seiten
Das Neue Berlin, 2021
12,- EUR

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