Zwischen den Stimmen im Kopf und der Realität
Cristina ist als Tochter eines Angolaners und einer Portugiesin im Angola zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges geboren. Ihr Vater gehörte der sogenannten Kommission der Tränen an, eine Regierungsbehörde, die im postkolonialen Angola für Anklagen und Verhöre zuständig war. Im Rahmen der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der Befreiungsbewegung MPLA wurden Kritiker grausam gefoltert, Zehntausende kamen ums Leben. Gräuel, die Cristina als Kind in Angola mitbekommen hat, kehren in ihren Erinnerungen und in Stimmen in ihrem Kopf zurück. Wie etwa die Erinnerung an das gefolterte Mädchen, das bis zum Schluss nicht aufhören wollte zu singen.
“eigenartig, dass es Gefühle gibt, die sich halten, wenn ich dich an der Hand nehme, wenn ich dich nicht an der Hand nehme, keiner von uns beiden nimmt die Hand des anderen, wozu, weiche Finger, die man am liebsten abschütteln würde, und dann die eigene Handfläche und die eigenen Finger, die ja, mit Knochen, am Bein abwischen, ich frage mich, ob ich es war, der die Kugel ins Herz des Mädchens, mir ist so, als ob die Pistole, mir ist nicht so, als ob die Pistole, wie soll ich mich dreißig Mai später daran erinnern, ich ertrug es nicht, sie singen zu hören, ich war es, die Nase und die Zunge bereits von rotem Geronnenem ersetzt, ich weiß es nicht”
Als Cristina fünf Jahre alt ist, muss die Familie nach Portugal fliehen, doch die Vergangenheit lässt keinen der drei los. Der Vater spielt Schach gegen sich selbst und verlässt aus Angst vor Rache des Regimes das Haus nicht mehr. Cristina wird immer wieder psychiatrisch behandelt, um die Stimmen in ihrem Kopf zum Verstummen zu bringen. Das vermögen nur Spritzen, sonst sprechen die Gegenstände, die Bäume zu ihr und fallen sich mitunter gegenseitig ins Wort.
“hier in der Klinik Stille, durch die Spritzen verlieren die Dinge ihr Interesse an mir, ein Satz dann und wann, aber ohne Drohungen oder Feindseligkeit, nur der Name
– Cristina”
Dem Leser fällt es teilweise schwer, der Handlung zu folgen, zu entschlüsseln, was Realität und was Hirngespinst ist. Das zentrale Thema des Romans, der portugiesische Kolonialkrieg und die Zeit danach, bleibt verschwommen. Die Perspektive der Protagonistin Cristina ist zu sehr eingeschränkt, um diese Ereignisse darzustellen. Umso mehr aber wird deutlich, wie diese Zeit sich auf die Menschen ausgewirkt hat.
António Lobo Antunes war selbst nach seinem Medizinstudium 27 Monate lang in Angola als Militärarzt stationiert. Nach der Nelkenrevolution 1974 arbeitete er als Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik in Lissabon. Der Autor weiß somit, was solche Ereignisse mit einem Menschen machen, wie sie sich in versteckte Winkel des Gehirns verkriechen und immer wieder zutage kommen. So hat Lobo Antunes ein Buch im Fluss geschrieben, ohne Punkt, rast- und ruhelos. Hier auch noch einmal ein besonderes Lob an die Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann. Vielleicht sind es die eigenen Erinnerungen, die António Lobo Antunes antreiben. Ganz gewiss sind sie es sogar, denn wie wäre sonst ein solch imposantes, bewundernswertes Werk entstanden?
António Lobo Antunes: Kommission der Tränen
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Originaltitel: Comissao das Lagrimas
384 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
€ 22,99