Wenn schon einmal eine Lesung in unserem beschaulichen Ort stattfindet, lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, auch hinzugehen. Sandra Roth, die unter anderem für die Zeit und die Brigitte schreibt, kam, um aus ihrem Buch Lotta Wundertüte zu lesen und einen kleinen Ausblick auf ihr zweites Buch zu geben, das Anfang Oktober im KiWi-Verlag erscheint.
Ihr Kind ist eine Wundertüte
In beiden Büchern geht es – grob gesagt – um das Leben mit ihrem mehrfach behinderten Kind “Lotta”, das mit einer Vena Galeni Malformation zur Welt gekommen ist und dadurch blind ist und nicht gehen und sprechen kann. Die Lesung beginnt mit einer Szene, in der Sandra Roth kurz vor der Geburt ihrer Tochter steht. Sie ist bereits im Krankenhaus. Ein Arzt stellt ihr eine andere Frau als weiteren “Härtefall” vor. Deren noch ungeborenes Kind hat Trisomie 21, sprich das Down-Syndrom. Nach der Geburt folgen Besuche bei etlichen Neurologen, die unterschiedlichste Diagnosen, Meinungen und Zukunftsaussichten von sich geben. “Ihr Kind ist eine Wundertüte”, sagt ihr ein Arzt.
Leben mit einem mehrfach behinderten Kind
Zunächst verschweigen die Eltern die Behinderung ihres Kindes, verschließen sich dagegen, wollen es selbst nicht wahrhaben. Noch ist auch nichts ohne Weiteres davon zu bemerken. Lotta ist ein Baby wie andere Babys auch. Bis Sandra Roth erfahren muss, dass Lotta blind sei. Sie vertraut sich einer Bekannten an, der neuen Nachbarin Clara. Und ab da macht sie Bekanntschaft mit unterschiedlichsten Reaktionen. Es gibt Menschen, die so optimistisch sind, dass es weh tut (“Das wird schon wieder”), Leute, die schnell über das Thema hinweggehen, peinlich berührt sind und wiederum andere, die geradezu das Leid anderer Menschen suchen, um sich selbst besser fühlen zu können. Und es gibt Clara, die ihr zuhört, sie auffängt und ermutigt, die Situation anzunehmen.
Es folgen Ausschnitte aus dem Alltag der Familie – Lotta hat übrigens einen zwei Jahre älteren Bruder Ben, der sie bedingungslos liebt und verteidigt – eine Pflegestufe wird beantragt und irgendwann wird es Zeit für den Kindergarten. Sieben integrative Kindergärten lehnen das Kind ab, erst ein Regelkindergarten, dessen Leiterin Heilerzieherin ist, nimmt Lotta auf. Und es funktioniert. Ja, Inklusion kann funktionieren und das kann überaus schön sein.
Für wen gilt ein Menschenrecht? Wann beginnt Inklusion?
In ihrem bald erscheinenden zweiten Buch berichtet Sandra Roth über die Suche nach einer geeigneten Grundschule für Lotta. Natürlich müssen die örtlichen Gegebenheiten stimmen, denn Lotta sitzt im Rollstuhl, Treppen steigen ist nicht. Die Mutter schaut sich eine inklusiv arbeitende Schule in Köln an und ist begeistert davon, dass es einen Aufzug gibt und einen Ergotherapieraum. Doch, so sagt ihr dann der Rektor, “gewickelt wird hier nicht.” 2008 ist die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Jeder Mensch mit Beeinträchtigung hat somit das Recht, am “normalen” Unterricht mit nicht behinderten Mitschülern an einer Regelschule teilzunehmen. Roth steht aber unweigerlich vor der Frage, ab wann und für wen Inklusion gilt. Kann Integration nur gelingen, wenn sie nicht allzu viel Arbeit macht? Ihr Kind ist “schwer mehrfach charmant”, wie sie sagt, und unerwünscht.
Inklusion ist längst nicht selbstverständlich
In ihrem zweiten Buch Lotta Schultüte stößt sie die Diskussion um Inklusion und gemeinsamen Unterricht noch einmal an, denn trotz der recht eindeutigen Gesetzeslage ist Inklusion noch lange nicht selbstverständlich. Das wissen auch die Mitarbeiter von invema e.V. – der Veranstalter der Lesung. In diesem Jahr feiert der Verein sein 25-jähriges Bestehen mit einer Veranstaltungswoche. Und leider muss nach einem Vierteljahrhundert festgestellt werden, dass immer noch viel zu tun ist, dass die schlimmsten Barrieren in den Köpfen der Menschen bestehen und dass Menschen mit Behinderung eben noch nicht selbstverständlich und überall Teil dieser Gesellschaft sind.
Sandra Roth
Lotta Schultüte
Kiepenheuer&Witsch
336 Seiten
(erscheint am 04.10.2018)