Fußball, Mate und Tango. Und Bücher?
Ein Streifzug durch die Literatur Argentiniens
Argentinien ist für so einiges bekannt: Rindfleisch, Tango, Diego Maradona. Argentinien und insbesondere seine Hauptstadt Buenos Aires war lange Zeit Sehnsuchtsort und neue Heimat abertausender Auswanderer aus Europa. Wie aber sieht das literarische Argentinien aus? Auch da hat das Land zwischen Pampa und Megacity Buenos Aires eine Menge zu bieten. Gerade junge Literatur boomt.
Als Argentinien 2010 Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse wurde, nannte die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner einige Personen, die sie als würdig erachtete, ihr Land zu vertreten: Eva Perón, Che Guevara, Carlos Gardel, und Diego Maradona. Eine Präsidentengattin, ein Rebell, ein Tangosänger und ein Fußballer. Keine Literaten also. Komisch eigentlich, denn immerhin ging es um eine Buchmesse. Hat Argentinien etwa nichts an Schriftstellern zu bieten? Steht es so schlecht um die Literaturszene des Landes? Mitnichten!
Ein Land voller Literaturschätze
Argentinien blickt auf eine große literarische Vergangenheit zurück. Diese beginnt mit der Gründung des Vizekönigreichs Río de la Plata 1776 und ist zu dieser Zeit vor allen Dingen durch die europäische insbesondere die französische Literatur geprägt.
Mit der Unabhängigkeitsbewegung und der Suche nach einer eigenen kulturellen Identität im 19. Jahrhundert kommt die Gaucholiteratur auf. Der Gaucho wird zum Mythos und zur zentralen Figur der argentinischen Literatur, zum Beispiel in Esteban Echeverrías “El Matadero“.
Um die Jahrhundertwende entwickelt sich im vorher ländlich geprägten Argentinien ein urbaner Charakter. Der große Zustrom an Einwanderern, vor allem europäischen, verändert die Kultur und somit die Literatur des Landes. Buenos Aires wird die moderne Metropole Südamerikas, die Literatur in Argentinien kosmopolitisch. In den 1920er Jahren kommt die Avantgarde-Bewegung auf, die sich mit der Grupo Florida und der Grupo Boedo in zwei gegensätzliche Lager spaltet. Zur vom spanischen Ultraísmo beeinflussten Grupo Florida gehören Dichter wie Jorge Luis Borges oder Francisco Luis Bernández. Während diese Gruppe als aristokratisch, ja sogar snobistisch angesehen wurde, war die Grupo Boedo politisch aktiv, sozialkritisch und vom russischen Realismus stark beeinflusst. Ihr bedeutendster Vertreter war der Schriftsteller und Journalist Roberto Arlt, Sohn einer deutsch-österreichischen Einwandererfamilie, der als Begründer des argentinischen Großstadtromans gilt.
In den fünfziger Jahren erlebt die Avantgarde-Literatur eine Neubelebung in der Zeitschrift Poesía Buenos Aires. Julio Cortázar, der 1914 als Sohn eines Handelsattachés der argentinischen Botschaft in Brüssel geboren wird, veröffentlicht seine ersten Erzählungen. Er gilt bis heute neben Borges als einer der bedeutendsten Autoren der phantastischen Literatur. Sein Experimentalroman “Rayuela” von 1963 übte großen Einfluss auf lateinamerikanische Schriftsteller wie den Kolumbianer Gabriel García Márquez oder den Peruaner Mario Vargas Llosa aus. Ebenso wichtig für die Entwicklung der argentinischen Literatur ist der Romancier und Drehbuchautor Manuel Puig, dessen Buch “Der Kuss der Spinnenfrau” 1976 zum Kulturroman avanciert.
Herkunft und Identität
Ein nicht unbedeutendes Thema in der argentinischen Literatur ist die nationale und kulturelle Identität.
Zwar gibt es ein Einheitsgefühl, einen gemeinsamen Nenner: die Argentinidad. Doch sind die Einwohner Argentiniens auch durch ihre unterschiedlichsten Herkunftsländer geprägt. Ein großer Teil der Argentinier hat italienische Wurzeln. Einer von ihnen ist Antonio dal Masetto. 1938 im italienischen Piemont geboren, wanderte er 1950 als Kind mit seiner Familie nach Argentinien aus.
Dal Masetto hat acht Romane und mehrere Erzählbände veröffentlicht und gilt heute als einer der wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur Argentiniens. Seine Emigrations-Romane “Als wäre es gestern gewesen” und “Als wäre es ein fremdes Land” thematisieren das Leben armer Bergbauern und Fabrikarbeiter in der Gegend um den Lago Maggiore zur Zeit des italienischen Faschismus und die Auswanderung nach Argentinien. Im Zentrum steht hier die Protagonistin Agata, deren Vorbild wohl Dal Masettos Mutter gewesen ist. Die beiden Romane geben dem kollektiven Gedächtnis der riesigen italienischstämmigen Gemeinde Argentiniens mit Agata ein Gesicht.
Psychogramm eines literarisch bewanderten Serienkillers
Gerade eben erst ist der neue Roman “Munk” des argentinischen Schriftstellers Ricardo Piglia in deutscher Übersetzung erschienen. Piglia gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Der 1940 in Androgué nahe Buenos Aires geborene Universitätsprofessor für Literatur und Film vereint in seinem Werk “das literarische Erbe zweier Großer der argentinischen Literatur: Jorge Luis Borges, dem er im Spiel um Realität und Fiktion, in den untergründigen Bezügen seiner Texte verwandt ist, ohne seinen elitären Gestus zu teilen. Und Roberto Arlt, der bereits in den 1920er Jahren den unteren Schichten der Gesellschaft eine Stimme verlieh” (Zeit online).
Sein neuer Roman spielt jedoch nicht in Argentinien, sondern im winterlichen Nordamerika in der Umgebung von New York. Dort hält der Professor Emilio Renzi als Gastdozent an der Taylor University ein Seminar über den Schriftsteller W.H. Hudson. Renzi lässt sich auf eine Affäre mit der brillanten Professorin Ida Brown ein, der er bereits bei seinem ersten Aufenthalt drei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Doch dann ist Ida plötzlich tot. Das FBI ermittelt. Renzi, der nach dem Idas Tod keine Ruhe findet, fängt selbst an zu ermitteln und stößt dabei auf paranoide Abgründe der amerikanischen Gesellschaft. Die Geschichte wandelt sich in einen packenden Kriminalroman und wird zum Psychogramm eines literarisch bewanderten, aber kaltblütigen Serienkillers, der Universitätsprofessoren mit Briefbomben in die Luft jagt.
Literarisches Festmahl
Argentinien hat eine bunte, junge Literaturszene. Jahrelang allerdings hatten sich die großen Verlagshäuser Argentiniens geweigert, die Werke junger Autoren aus dem eigenen Land zu publizieren. Das Geschäft erschien zu unrentabel und darüber hinaus wurden viele Verlage in den Rezessionsjahren
von internationalen Konsortien übernommen. Und trotzdem boomt junge Literatur heute in Argentinien. Anfang der 2000er Jahre entdeckten die Feuilletons die argentinische Literatur gerade zu. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt, dass in der Wirtschaftskrise immer weniger verlegt wurde, was zur Chance der kleinen Independent-Verlage wurde. Mit ihrer Anthologie “Asado verbal” haben Timo Berger und Mike Bolte im Wagenbach-Verlag 2010 die Texte fünfzehn junger Autorinnen und Autoren in deutscher Sprache veröffentlicht. Texte, die sich mit Themen weitab von Fußball, Tango oder auch der Aufarbeitung der Militärdiktatur beschäftigen. Die junge Schriftstellergeneration Argentiniens, zu der zum Beispiel Washington Cucurto, Lucía Puenzo oder Félix Bruzzone gehören, hat durchaus etwas zu sagen. Washington Cucurto etwa stammt selbst aus ärmlichen Verhältnissen und musste bereits als Kind seinen Vater bei dessen Arbeit als Verkäufer begleiten. Entdeckt wurde er bei einer Lesung an seiner Schule durch den Schriftsteller Fabián Casas.
Diese Generation befasst sich mit sozialen und politischen Missständen im Land, mit Gewalt und Ausbeutung. Frisch und häufig in einer leicht ironischen Umgangssprache schreiben sie so, wie sie ihre Welt sehen.
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