Interview

Literatur zwischen den Kulturen

Ein Gespräch über interkulturelle Literatur mit dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Carmine Gino Chiellino.

 

Jährlich wird in München der Adelbert von Chamisso-Preis verliehen. Preisträger sind Autoren, die von einem Kulturwechsel geprägt wurden und in deutscher Sprache schreiben. Einer der Preisträger ist der Lyriker und Literaturwissenschaftler Gino Chiellino. Chiellino ist 1946 im süditalienischen Carlopoli geboren und kam 1969 nach Deutschland. Er hat mehrere Gedichtbände, Anthologien und Übersetzungen veröffentlicht und ist an der Universität Augsburg tätig. Dort hat er sich auf die Erforschung interkultureller Literatur spezialisiert. Worum es dabei geht, erklärt er uns im Interview.

 

Herr Chiellino, Sie sind Herausgeber des Handbuches „Interkulturelle Literatur“. Deshalb zunächst die Frage, was versteht man eigentlich unter „interkultureller Literatur“?

Sogar in meinem jüngsten Werk mit dem Titel Das große ABC für interkulturelle Leser von 2015 habe ich vermieden, eine Definition von interkultureller Literatur zu formulieren. Jede inhaltliche Definition ist sehr problematisch, daher habe ich immer vorgezogen, ihren Auslöser im Mittelpunkt meines Verständnisses von interkultureller Literatur zu stellen. Interkulturelle Literatur kann in folgenden sozio-politischen und kulturellen Kontexten entstehen: Exil, postkoloniale oder einfache Einwanderung, Homophobie oder kontextlos und zwar als eigenes Lebensprojekt. Kann aber es muss nicht sein, denn interkulturelle Literatur entsteht nur in jenen Werken, in denen die zwei Sprachen des Schriftstellers in einem dialogischen Austausch von Informationen treten. Daher kann sich als interkulturell kompetenter Leser nur derjenige betrachten, der, während er die Sprache des Romans, der Erzählung oder des Gedichtes liest, die andere hört. Anders gesagt, derjenige, der aufgrund seiner spezifischen Sprach- und Kulturkompetenzen den dialogischen Austausch zwischen den Sprachen im Werk nachspüren, verfolgen kann.

Am intensivsten wird der dialogische Austausch in folgenden Werken der europäischen interkulturellen Literatur geführt und sie bieten sich an, um zu verstehen, was interkulturelle Literatur ist und was sie ästhetisch leisten kann:

 

Exil

  • Adel Karasholi Umarmung der Meridiane. Gedichte, 1978.
  • Libuše Moníková Eine Schädigung, 1981.
  • Cyrus Atabay Die Linien des Lebens, 1986.
  • Jorge Semprun Adieu, vive clarté…. 1998 – Unsre allzu kurzen Sommer, 1999.
  • François Cheng Le Dit de Tianyi, 1998 – Der lange Weg des Tianyi, 2009.
  • Ota Filip Der siebente Lebenslauf, 2001.
  • Ágota Kristóf L’analphabète, 2004 – Die Analphabetin, 2005.
  • Gëzim Hajdari Poema dell’esilio, 2007.
  • Vassilis Alexakis Le premier mot, 2010.

Postkoloniale Einwanderung

  • Albert Memmi Agar. 1955 – Die Fremde, 1995.
  • Fred D’Aguiar The Longest Memory, 1994 – Die längste Erinnerung, 1995.
  • Abdulrazak Gurnah Pilgrims Way,1988 – Schwarz auf Weiß, 2004.
  • Caryl Phillips In the Falling Snow, 2009 – Jener Tag im Winter, 2011.

Kontextlos

  • Theodor Kallifatides En fallen ängel, 1981 – Der gefallene Engel, 1987.
  • Fleur Jaeggy I beati anni del castigo, 1989.
  • Andreï Makine Le testament français, 1995 – Das französische Testament, 1997.

Homophobie

  • Agustín Gómez-Arcos L’agneau carnivore, 1976.
  • Hector Bianciotti Ce que la nuit raconte au jour, 1992 – Was die Nacht dem Tag erzählt, 1993.
  • Arnold de Vos Merore o un amore senza impiego, 2005.

Einwanderung

  • Aras Ören Eine verspätete Abrechnung oder der Aufstieg der Gündoğdus. Ü. von Z. Şenocak u. E. Hund, 1988.
  • Franco Biondi Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft, 1991.


In den 1970er und 1980er Jahren sprach man bei literarischen Werken von ausländischen Schriftstellern von Gastarbeiterliteratur. Was ist falsch an dem Begriff?

Falsch daran sind ausschließlich die inkompetenten Äußerungen, die seit Jahrzenten sowohl in pseudowissenschaftlichen Abhandlungen als auch in der deutschsprachigen Feuilletonistik zu lesen sind. Und dabei spielt es keine Rolle ob sie von deutschen oder nicht deutschen Verkündern stammen.

Wer die deutschsprachigen Werke von Franco Biondi, Gino Chiellino, Sinasi Dikmen, Lisa Mazzi Spiegelberg, Zvonko Plepelić, Fruttuoso Piccolo, Yüksel Pazarkaya, die italienischsprachigen Gedichte und Romane von Giuseppe Giambusso oder Marisa Fenoglio, die türkischsprachigen Werke von Güney Dal, Aras Ören oder Asyel Özakin gelesen hat, kann durchaus nachvollziehen, dass es diesen SchriftstellerInnen darum ging, eine engagierte Literatur zu schreiben. Ihnen allen ging es darum, gegen die Widersprüche der Einwanderungspolitik der BRD („Deutschland ist kein Einwanderungsland“ lautet die Durchhalte-Parole) und die diskriminierenden Erfahrungen der Einwanderer öffentlich Position zu beziehen und Aufklärungsarbeit zu leisten.

Durch die Entscheidung für die deutsche Sprache sollte eine solidarische Plattform für die Kommunikation unter den Einwandern geschaffen werden.

Mit Schlagwörtern jeder Art wurden in den 80er Jahren mehrere Versuche unternommen, die

Handbuch zur Interkulturellen Literatur
Handbuch zur Interkulturellen Literatur

aufkommende Literatur zu definieren bzw. zu lenken. Man sprach von einer „Literatur der Betroffenheit“, einer „Literatur von Außen“ und im Allgemeinen von „Ausländer- bzw. Einwanderliteratur“ – damals schon mit demselben Eifer, mit dem heute noch von „Migranten- bzw. Migrationsliteratur“ usw. gesprochen wird, ohne die Werke zu lesen. Wie jede engagierte Literatur, hat sich auch die Gastarbeiterliteratur als kurzlebig erwiesen, auch weil ihre führenden Vertreter sehr rasch erkennen mussten, dass ihr entgrenzendes Vorhaben, Schriftsteller in deutscher Sprache zu werden, sich kaum mit dem ästhetischen und thematischen Bezugssystem einer engagierten Minderheitsliteratur vereinbaren lässt.

Der Übergang zu der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache wurde 1991 von Franco Biondi mit seinem Roman Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft exemplarisch geleistet. Dies erkennt der Leser daran, dass seine Protagonisten aufgrund ihrer klaren Berufsidentität schon längst als paritätische Mitglieder der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu verstehen sind und dass es dem Sprachwechsler Franco Biondi nur darum geht, seine deutsche Sprache mit einem interkulturellen Gedächtnis und seine Protagonisten mit einem inter-kulturellen Lebenslauf auszustatten. Damit wird jeder interkulturelle Schriftsteller und jeder Protagonist eines interkulturellen Romans zukunftsfähig gemacht. Und gerade hier liegt der Anfang jeder interkulturellen Literatur.

 

Sie unterscheiden zwischen postkolonialer und klassischer Einwanderung als Kontext, in dem interkulturelle Literatur entstehen kann. Weshalb diese Unterscheidung?

Was die Qualität der geschriebenen Sprache angeht, lässt sich feststellen, dass der Kontext kaum eine Rolle spielt. In der Tat, Schriftsteller, die in einem oder in dem anderen Einwanderungskontext, Romane, Gedichte oder Essays verfassen, schreiben durchweg eine engagierte, analytische, narrative Sprache. Allerdings während Romanciers, Dichter und Essayisten im Kontext der postkolonialen Einwanderung sich vorwiegend mit der gemeinsamen, schwierigen, belastenden Vergangenheit von Kolonisatoren und Kolonisierten beschäftigen, stellen Schriftsteller im Kontext der klassischen Einwanderung eher die Ankunft, die Gegenwart und die Zukunft der Einwanderer in den Mittelpunkt ihrer Werke. Während die ersteren Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für ein konstruktives Zusammenleben im Einwanderungsland verfolgen, beschäftigen sich die zweiten mit dem Wunsch, dem Willen, dem Recht der Einwanderer, an der Gestaltung der Zukunft des Landes beteiligt zu werden, in dem sie ihr Lebensprojekt verwirklichen wollen. Ein weiterer Unterschied ergibt sich aus der Tatsache, dass die interkulturelle Literatur im Kontext der klassischen Einwanderung von Sprachwechslern geschrieben wird, die sich für eine Sprache entschieden haben, in der sie keine Vergangenheit haben. So gesehen schreiben sie eine Sprache, die sich nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart ernährt und eine solche Sprache wird über die Augen geschrieben.

 

Jährlich wird der Adelbert-von-Chamisso-Preis an auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist, verliehen. Sie waren 1987 selbst Preisträger. Brauchen wir einen solchen Preis? Schafft er nicht noch eher eine Abgrenzung vom „Wir“ zu „den Anderen“, also deutschsprachiger Literatur deutscher Autoren zur Literatur von Einwanderern der ersten, zweiten, vielleicht gar dritten Generation? Wird den Preisträgern das Etikett „Migrant“ aufgedrückt?

Die Diskussion ist genau so alt wie der Preis selbst. Da ich fast immer bei der Preisverleihung in München dabei bin, weiß ich zu berichten, dass die Laudatores mit großem Eifer darauf hinweisen, dass ihre Preisträger zu den besten Dichtern und Romanciers des Jahres gehören, die man nicht in irgendeine Schublade stecken soll und dass sie nicht das Geringste mit der „Ausländer- bzw. Einwanderliteratur“ oder mit der „Migranten- bzw. Migrationsliteratur“ zu tun haben.

Diesen Zwang zum Abstand von all den Menschen, die als Einwanderer in Deutschland leben, empfinde ich als sehr problematisch, ja ekelhaft, gerade weil es den Schriftstellern frei steht, den Preis abzulehnen, wenn ihnen die Nähe zu Einwanderern unerträglich ist und wenn sie der Meinung sind, dass sie deutschsprachige, sogar deutsche Autoren sind. Nicht der Preis, die Preisträger können zum Problem für den Preis werden, wenn ihnen die Identifikation mit dem Preis fehlt.

 

Der diesjährige Preisträger Sherko Fatah ist als Sohn eines irakisch-kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ost-Berlin geboren. Er hat also selbst keine Migrationsbiographie und spricht Deutsch als Muttersprache. Warum wird ihm dennoch der Chamisso-Preis verliehen? Ist sein Werk nicht einfach deutschsprachige Gegenwartsliteratur- unabhängig vom Klang seines Namens?

Ja, so ist das und ich frage mich, wieso derartige Autoren, den Preis entgegennehmen. Allerdings erinnere ich daran, dass schon im Jahre 1993 meinem Freund Dante Andrea Franzetti, Sohn einer Schweizer Mutter und eines italienischen Vaters, der Chamisso-Preis verliehen worden ist, gerade weil die Satzung des Preises Autoren der zweiten Generation als preiswürdig vorsieht, selbst wenn sie in der Sprache geboren sind, die sie als Instrument ihrer Kunst verwenden.

 

Wann wird Literatur zu interkultureller Literatur? Wenn der Schreibende einen Migrationshintergrund hat oder wenn er sich mit dem Thema Migration literarisch auseinandersetzt?

Weder das eine noch das andere trifft wirklich zu. Denn am Anfang steht eine junge Frau oder junger Mann mit dem Lebensprojekt, Schriftsteller werden zu wollen. Dabei entscheiden sie sich, ihr Projekt nicht in der eigenen Muttersprache umzusetzen, sondern sie suchen sich die Sprache aus, der sie ihre gespürte Kreativität anvertrauen wollen. Diese risikoreiche, mutige Entscheidung stellt den Anfang dar und macht den Unterschied zwischen den interkulturellen Autoren und allen anderen Schriftstellern, die interkulturelle Themen als Trendthemen aufgreifen, ohne sich für eine bestimmte Sprache entscheiden zu können. Allerdings der Sprachwechsel allein macht aus dem Wechsler keinen interkulturellen Schriftsteller.

Es gehört die Fähigkeit und der Wille dazu, über ausgewählte Themen seine Sprachen in einen dialogischen Austausch zu führen, so dass die geschriebene Sprache ein interkulturelles Gedächtnis erhält, indem sie das Kulturgedächtnis der nicht geschrieben Sprache in sich aufnimmt. So gesehen kann interkulturelle Literatur auch von Autoren geschrieben werden, die ihre Werke in ihrer Herkunftssprache abfassen, soweit ihre Protagonisten als Einwanderer in einer „fremden“ Sprache und Kultur leben.

 

Muss ein Schriftsteller sich überhaupt einordnen als Deutscher, als Ausländer oder Deutsch-Türke usw.?

Er kann dies tun oder lassen, wohl wissend, dass die deutsche Monokulturalität eine ziemlich hohe Nationalhürde ist, die man nehmen muss, um sich als deutschsprachiger, sogar deutscher Schriftsteller zu verstehen. In Wirklichkeit entsteht jede Art von Einordnung am Anfang durch eine Trendvermarktung des Autors durch den Literaturbetrieb und später durch die didaktische Verwendung oder literaturwissenschaftliche Auslegung seiner Werke. Selten durch die Art und Weise, wie seine Werke von interessierten Lesern verstanden werden. Gedichte, Romane, Satire gehören den Lesern und sie lesen jedes Buch unter den Voraussetzungen, die sie bewegt haben, es zu kaufen. Ich selbst verstehe mich nach wie vor als Gastarbeiterdichter, denn mir ist es immer darum gegangen, die Einwanderung als unerschöpfliches Thema der interkulturellen Literatur zu erfassen und dadurch mich Teil der mehr als hundertjährigen Geschichte meiner Auswandererfamilie zu wissen.

 

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Maxim Biller bezeichnete 2014 in der Zeit die Chamisso-Literatur als Onkel-Tom-Literatur und hält den Preis für eine „Gemeinheit”. Er meint, Schriftsteller würden sich dafür anpassen oder gar selbst verleugnen. Wie sehen Sie das?

Es fehlt mir sehr schwer, direkt auf einen Schriftsteller und Literaturkritiker zu reagieren, den ich nicht kenne und dessen Artikel ich nicht gelesen habe. Aber ich kenne die Geschichte des Chamisso-Preises und vor allem die Werke, die dieser Literaturkritiker vermisst, weil er sich nie die Mühe gemacht hat, diese zu lesen, denn sonst wäre er auf differenzierte Wahrnehmung der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache gekommen.

Mit seiner schnellen Urteilskraft steht er allerdings nicht allein da. Ich erinnere daran, wie Feridun Zaimoglu aus dem Wunsch sich als Kronzeuge Verdienste bei der deutschen Feuilletonistik zu erwerben, die Gastarbeiterliteratur als „toten Kadaver“ in einer Sondernummer von Text und Kritik diffamiert hat. Und ich zweifle daran, dass er mal eine Zeile davon gelesen hat. Jeder tut was er kann. Je höher die Inkompetenz desto entschiedener wütet ihre Urteilskraft.

Den Chamisso-Preis als Gemeinheit wahrzunehmen, kann jemandem passieren, dem sich die Einzigartigkeit und Komplexität dieses Preises völlig entzieht. In der Tat handelt sich beim Chamisso-Preis um ein vielfältiges Programm, mit dem die Robert-Bosch-Stiftung die deutschsprachige Gegenwartsliteratur im gesamten deutschsprachigen Raum seit 1985 sehr intensiv fördert. Hierzu gehören Schreibstipendien, Lesereisen, die Chamisso-Poetik, Literaturwerkstätte, Literaturfestivals, die Chamisso-Literaturtage, wissenschaftliche Erschließung der betreffenden Literatur, usw. Das alles zusammen bildet ein differenziertes Fördersystem, in dem junge Schriftsteller sich in absoluter Autonomie weiterentwickeln können, gerade in den Jahren, in denen sie am meisten auf Unterstützung angewiesen sind.

 

Sie selbst schreiben deutschsprachige Lyrik. Wann haben Sie begonnen auf Deutsch zu schreiben, wie kam es dazu? 

Wie es dazu kam, habe ich schon in der Antwort auf die Frage, wann Literatur zu interkultureller Literatur wird, beschrieben. Anzumerken wäre, dass ich nicht allein war. Meine Anfänge haben im Kontext der Gastarbeiterliteratur und des internationalen Vereins PoLiKunst stattgefunden. Allerdings schreibe ich keine deutschsprachige Lyrik. Ein solches Ziel habe ich mir nie gesetzt und ich würde mir nicht anmaßen, dies zu können. Ich schreibe interkulturelle Literatur in deutscher Sprache. Das heißt, ich versuche die innere Entwicklung eines lyrischen Ichs in deutscher Sprache zu erfassen, das sich entschieden hat, sich die Sprache auszusuchen, in der es weiterleben wird. Und dies ist nicht wenig!

 

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

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