Rezensionen

Matzen und Marx

In seinem gerade auf Deutsch erschienen Buch „Das Haus der zwanzigtausend Bücher“ beschreibt Sasha Abramsky das Leben seines Großvaters anhand dessen riesiger Privatbibliothek.

Es erinnert ein wenig an Jakob Mendel, den jüdischen Bibliophilen aus Stefan Zweigs Novelle Buchmendel. Unwissenden erschien dieser als Buchschacherer, als jemand, der Bücher nicht nach ihrem geistigem Gehalt, sondern vielmehr nach ihrem Preis, ihrer Erscheinungsform oder dem Titelblatt auswählte. Chimen Abramsky war, das kann man wohl so sagen, auch ein Büchernarr. Aber er war kein Schacherer, auch wenn er mit dem Kauf und Verkauf rarer Bücher unter anderem für das renommierte Auktionshaus Sotheby’s gutes Geld verdiente. Mit seinen Büchern jedoch baute sich Chimen sprichwörtliche Wissensmauern. Wände aus Worten. Englische, russische, hebräische und jiddische Worte.

Das Haus der zwanzigtausend Bücher

Chimens Enkel Sasha beschreibt das Haus, in dem der Großvater über ein halbes Jahrhundert lang lebte, als vollgestopft mit Büchern. Die Wände aller Zimmer mit Ausnahme der Küche und des Badezimmers waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern bedeckt. Teils in zwei Reihen hintereinander. Ob diese Wände einen Schutzwall darstellten, welche die sich rasant verändernde Welt da draußen von ihm abschirmte? Wohl eher nicht. Dafür stand die Tür zum Haus der zwanzigtausend Bücher zu vielen Menschen offen. Wohl aber sind die Unmengen von Seiten ein Ausdruck, wenn nicht Teil der Identität Abramskys. Seiner Identität als Marxist und als Jude. Zu seiner Privatbibliothek gehörten nicht nur umfassende Werke der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, Erstausgaben der Werke Spinozas, seltene Exemplare mit Lenins Notizen, Karl Marxens handgeschriebene Briefe, sowie dessen Mitgliedsausweis der Ersten Internationale. Chimens Sammlung umfasste auch den wohl größten privaten Bestand zur jüdischen Geschichte, Religion und Kultur in Großbritannien, wenn nicht gar weltweit. Welchen – auch materiellen – Wert diese Bibliothek hatte, zeigte sich etwa 2011 bei ihrer posthumen Versteigerung. Die mit handschriftlichen Korrekturen versehene französische Erstausgabe von Marx’ Kapital brachte 40.000 Euro ein.

Von der Sowjetunion zur britischen KP

Chimen Abramsky entstammte einem angesehenen Rabbinergeschlecht aus dem heutigen Weißrussland. Obwohl sein Vater Yehezkel in der Sowjetunion Repressionen bis hin zur Internierung ausgesetzt war, begeistert sich der Atheist Chimen für den Marxismus, genauer sogar für den Stalinismus. In London, wohin die Familie emigriert, wird er Mitglied der Kommunistischen Partei. Dogmatisch und liniengetreu wirbt er für die Arbeiterbewegung, während sein Vater Rabbiner einer erzkonservativen Gemeinde und Richter des Londoner Beit Din, des Rabbinatsgerichts, wird. Jahrzehnte später berichtet sein Enkel Sasha, wie geschockt er war, als er erkannte, welch dogmatische Stalinisten seine Großeltern bis zu ihrem Austritt aus der Kommunistischen Partei in den 1950er Jahren gewesen sind. „Es schockierte mich, einige von Chimens Schriften für die Kommunistische Partei zu lesen, die er unter Pseudonymen geschrieben hatte, und auch die interne Parteibiographie, die er bei der Partei eingereicht hatte. Ich denke, Chimen verbrachte ein halbes Jahrhundert damit mit sich selbst über das Wie und das Warum zu ringen. Und das machte mir bewusster, wie kompliziert und oft widersprüchlich Menschen sind.“

Chimens Haus wird zum Treffpunkt der britischen Linken. Aktivisten und Intellektuelle wie der Historiker Eric Hobsbawm gehen ein und aus bei den Abramskys. 1965 veröffentlicht er gemeinsam mit Henry Collins das viel beachtete Werk „Karl Marx and the British Labour Movement“, das ihm – neben der Unterstützung Isaiah Berlins – zu einer Dozententätigkeit am Londoner University College und in Oxford verhilft. Er wird zum gefragten Experten und Berater des Auktionshauses Sotheby’s, sowohl für Werke der sozialistischen Geschichte als auch für jüdische Manuskripte.

„Metaphysische Schneckenhäuser“

Warum aber stellt sich jemand sein Haus dermaßen mit Büchern voll, dass am Ende kaum etwas anderes als eben diese zu sehen sind? Eine mögliche Antwort darauf gibt Philipp Blom in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe. „Diese Bibliotheken waren Utopien aus Papier, sie erschufen eine neue Welt, die die Nazis ihren Eigentümern geraubt hatten.“ Auch wenn Chimen nicht vor den Nazis nach England geflohen ist, so hat er doch unfreiwillig seine Heimat verlassen. Mit seinen Büchern baute er sich seine Heimat neu auf.

 

 

Sasha Abramsky: »Das Haus der zwanzigtausend Bücher«. Deutsch von Bernd Rullkötter. dtv, München 2015, 408 S., 22,90€

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