Zwischen Erinnern und Vergessen
Im Juni 1942 tritt in Paris ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: “Verzeihen Sie, mein Herr, wo befindet sich der Place de l’Etoile?”. Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.
42 Jahre hat es gedauert bis Patrick Modianos Erstlingswerk “La Place de l’Etoile” in deutscher Übersetzung erschien. Wie wohl kein anderer Roman spielt das Buch von 1968 mit jüdischen und antijüdischen Klischees. Vielleicht war der Sarkasmus, der den Roman durchzieht, für die nachkriegsdeutsche Leserschaft nicht früher zumutbar.
La Place de l’Etoile ist die Geschichte des französischen Juden Raphael Schlemilowitsch. Bereits der Name ist Programm und erinnert an Peter Schlemihl von Adelbert von Chamisso. Schlemihl, der junge Mann, der mehrfach den Teufel kontaktiert und dabei seine Identität – seinen Schatten – verliert. So kann sein Vorname Raphael die schlechten Vorzeichen ausgleichen, denn dieser bedeutet im Hebräischen so viel wie “Gott heilt”. Und so wie Schlemihl seine Identität verliert, verliert sich Schlemilowitsch in seinen wechselnden Identitäten. Er verdingt sich als Schwarzmarkthändler, als Kollaborateur, der Geschäfte mit den deutschen Besatzern macht und sogar als Mädchenhändler, der unschuldige junge Frauen in die Bordelle ferner Länder verkauft. Dabei wechselt der zeitliche Rahmen der Handlung ständig. Mal befinden wir uns vor dem Krieg (Dreyfuss-Affäre), mal nach dem Zweiten Weltkrieg und dann wieder währenddessen. Stets geht es um seine Identität als Jude. Nicht in religiöser Hinsicht. Vielmehr sind es die Zuschreibungen, die seine Identitäten bestimmen.
Um die Wohlgesinnten zu entmutigen, wiederhole ich vor Journalisten, dass ich JUDE bin. Folglich interessieren mich nur Geld und Wollust. Man findet mich sehr photogen: Ich werde widerliche Fratzen schneiden, ich werde Orang-Utan-Masken aufsetzen, ich will das Urbild des Juden sein, den sich die Arier um 1941 in der zoologischen Ausstellung im Palais Berlitz anschauen kamen.
In Schlemilowitsch findet sich auch ein Stück Modianos Identität, die seines Vaters, der Jude war, sich tatsächlich vor und während der Besatzungszeit als Geschäftsmann betätigte und unter einer Kollaborateursidentität dem Holocaust entkam. So kommen Einsamkeit, das schlechte Gewissen der Holocaust-Überlebenden, Entwurzelung und die Tatsache, der Sohn eines vermeintlichen Kollaborateurs zu sein, zusammen und bestimmen die Stimmung in Modianos Debütroman. Was zunächst durchaus verstörend wirkt, wird zum Schluss als “jüdische Neurose” entlarvt und zwar von Dr. Sigmund Freud persönlich. Hier spielt Modiano auf Sartre an, demzufolge es den Juden gar nicht gibt. Das Bild des Juden sei ein gemachtes, konstruiertes und diene lediglich dem Antisemiten zu dessen Ablenkung. “Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat würde ihm am liebsten vorwerfen, sich als Juden zu betrachten. Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte. Wir müssen uns also unsererseits die Frage stellen: Existiert der Jude? Und wenn er existiert, was ist er? Zuerst Jude oder zuerst Mensch? Liegt die Lösung des Problems in der Ausrottung aller Juden oder in ihrer völligen Assimilation? Oder ist eine andere Art denkbar es zu lösen?“*
Ein virtuoses Buch und großartiges Debüt des damals gerade einmal knapp 23-jährigen Modiano.
- Taschenbuch: 189 Seiten
- Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. Mai 2012)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 978-3423141000
- 8,90 €
*aus: Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Oktober 1944