Wenn man nicht gerade in Buenos Aires ist, dann kann man in Argentinien vor allen Dingen eines finden: schwach besiedelte, weite Landschaften und jede Menge Ruhe. Diese Ruhe ist es auch, die die Protagonistin Mara im gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Lasst mich da raus“ der argentinischen Schriftstellerin María Sonia Cristoff sucht, als sie zumindest für ein Jahr ihr altes Leben hinter sich lässt, um eine Anstellung als Saalwärterin in einem Provinzmuseum im Hinterland von Buenos Aires anzunehmen. Die Autorin selbst stammt aus Patagonien. Ihre Großeltern väterlicherseits waren bulgarische Einwanderer, die sich in dem Städtchen Trelew niederließen. Heute lebt Cristoff in Buenos Aires. „Lasst mich da raus“ ist ihr vierter auf Deutsch erschienener Roman.
Schweigen als Akt des Widerstandes
Mara möchte schweigen. Das ist so ziemlich genau das Gegenteil von ihrer bisherigen Tätigkeit als Simultandolmetscherin auf internationalen Konferenzen, wo sie fast ohne Unterlass sprechen musste. Ein Job als Museumswächterin erweist sich da als optimale Beschäftigung für jemanden, der nicht sprechen möchte. Dort kann sie sich zurückziehen und ihre Kommunikation auf das Nötigste reduzieren. Dass sie in der Nähe ihrer Heimatstadt Buenos Aires bleibt, zeigt, dass sie nach einem Leben der Karrieresprünge und Reisen nur noch das Minimum tun möchte. Und in einer Gesellschaft, die von uns abverlangt, ständig unser Bestes zu geben, ist das schon ein politisches Statement. Ähnlich dem ständigen Ausspruch Bartlebys „Ich möchte lieber nicht“ bei Melville. Maras Vorhaben ist im Grunde eine Reaktion auf die allgegenwärtige Manipulation, die sie durch ihre Arbeit für internationale Organisation gut kennt. Und gerade weil Sprache jahrelang ihre Leidenschaft war, ist ihr bewusst, dass diese das wohl mächtigste Werkzeug der Manipulation ist. Ein Grund für sie, ein Jahr zu schweigen. Ein Schweigen jedoch, das nicht absolut ist. Sie möchte sich nicht verstecken, sondern kämpfen. Von ihrem Stuhl im Museum aus möchte sie Widerstand leisten. Widerstand gegen eine neoliberale, technokratische Gesellschaftsordnung, die Menschen wie Dinge behandelt und danach beurteilt, wie nützlich sie sind. Mara ist keineswegs passiv oder gar depressiv. Sie zieht sich zurück, um innezuhalten und nachzudenken und um im zweiten Teil des Buches schließlich zu reagieren.
Eine Hommage an Huysmans
In Argentinien wurde Cristoff für ihren Roman bereits im letzten Jahr hochgelobt. Die Literaturkritikerin Beatriz Sarlo wählte ihn gar zum besten argentinischen Roman des Jahres 2014. Spätestens seit ihrem Aufenthalt als Stadtschreiberin in Leipzig 2010 ist sie auch in Deutschland keine Unbekannte mehr. Einflüsse auf sie, so die Argentinierin, hätten vor allem Autoren gehabt, die sich unwohl an ihrem Geburtsort gefühlt, autobiografisch und nicht besonders feierlich geschrieben haben. Autoren wie Melville, Beckett oder Huysmans. „In der Tat ist ‚Lasst mich da raus’ eine Art Hommage an einen seiner Romane.“ Auf die Analogie ihres Plans zum Rückzug des Des Esseintes, der Hauptfigur in Huysmans „Gegen den Strich“, macht Mara selbst in einer ihrer Notizen im Roman aufmerksam: „Raus aus Paris, raus aus Paris, so schnell wie möglich. Fortgehen. Sich absondern.“
María Sonia Cristoff
Lasst mich da raus
160 Seiten
Herbst 2015
ISBN 978-3-937834-86-3
EUR 20,00
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