Von Lenin lernen?
Popstar der Philosophie, Elvis der Kulturkritik oder Philosophie-Entertainer – wie auch immer Slavoj Žižek betitelt wird, in erster Linie ist der slowenische Psychoanalytiker und Hegelianer ein unermüdlicher Schreiber, der seinen Lesern auf unterhaltsame Art die Widersprüche und versteckten Ideologien innerhalb des heutigen Kapitalismus vor Augen führt. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse stellte er seine Interpretationen Lenins später Schriften vor und fragte, was wir heute noch vom Gründer der Sowjetunion lernen können.
Seit gut zwei Jahrzehnten versucht Slavoj Žižek, Lenin wieder auf die Füße zu stellen. Jedoch ist es keineswegs die historische Figur, also der – wenn man so will – offizielle Lenin, über den Žižek spricht. Vielmehr interessiert in Lenin als Denker, der unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nichts Geringeres tut, als ins Schweizer Exil zu gehen und die Hegelsche Logik zu studieren. Von September 1914 bis zu seiner Rückkehr nach Russland 1918 hatte Lenin mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja zunächst in Bern, später dann in Zürich gelebt. Eine Gedenktafel erinnert an diese Zeit in der Spiegelgasse 14, auch wenn das damalige Haus nicht mehr steht.
Man kann es nicht anders sagen, es waren unruhige Zeiten im Europa der 1910er Jahre. Dennoch stürzte sich der spätere Gründer der Sowjetunion nicht in den aktiven Kampf, sondern las alles, was er in die Hände bekommen konnte und arbeitete an seinem theoretischen Werk. Damit tat er im Grunde das Gegenteil dessen, was Marx forderte als er schrieb: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Vielleicht, sagt Žižek, müssten Marxisten auch heute noch einmal zu einem Punkt Null zurückgehen und versuchen, die Gegenwart zu verstehen, bevor sie beginnen, die Welt zu verändern. Marx sei zu optimistisch und idealistisch gewesen, da er den Kommunismus als historische Notwendigkeit angesehen hat, deren Zeit irgendwann zwangsläufig kommen wird. Sich selbst beschreibt so Žižek dann doch lieber als Pessimist im Hegelschen Sinne und sagt: „Wir haben keine Ahnung, was in der Zukunft kommt.“ Aber wir können versuchen, unsere Gegenwart soweit zu verstehen, dass wir an Lösungen für unsere aktuellen und zukünftigen Probleme arbeiten können. Probleme und Fragen, auf die keine liberaldemokratische kapitalistische Gesellschaft eine Antwort weiß, seien das nun ökologische Thematiken oder Migrationsentwicklungen. Hier bedarf es anderer Lösungsansätze als die bisherige Symptombehandlung. Wir müssen die Welt verstehen, um sie verändern zu können.
Häufig werden Dinge nur umgedeutet und ideologisch neu bestimmt. Ideologie ist ohnehin eines von Žižeks Lieblingsthemen, und sie ist allgegenwärtig. Eine durch liberale Ideologie in unserer Gesellschaft weit verbreitete Idee, sei etwa die der Wahlfreiheit. In der heutigen sogenannten Risikogesellschaft sei die herrschende Ideologie nach Kräften bemüht, „uns die Unsicherheit, die aus dem Abbau des Sozialstaats resultiert, als Möglichkeit zu neuen Freiheiten zu verkaufen. Du musst jedes Jahr deinen Job wechseln und dich mit Zeitverträgen abfinden, weil du keine langfristige Anstellung bekommst? Warum siehst du dies nicht als Befreiung von den Einschränkungen, die sich mit einer festen Stelle verbinden, als Chance, dich immer wieder neu zu erfinden.“
Noch einmal zurück zu Lenin und was wir heute von ihm lernen können. In seinem Testament, schrieb dieser zusehends verzweifelt gegen Stalin an, der seiner Empfehlung nach seinen Posten besser verlieren sollte. Lenins Argument war aber nicht die falsche politische Linie Stalins, sondern die Tatsache, dass dieser keine Manieren habe, unzivilisiert sei. Und eben dies, also Zivilisierung, ist etwas, so Žižek, das wir in der Ära der Trumps und Höckes bitter nötig haben.