Ein Mandala. So lautet der Untertitel des posthum erschienenen Romans “Für Isabel” des großen italienischen Schriftstellers Antonio Tabucchi. Ein Mandala ist immer zu seinem Zentrum hin ausgerichtet. Mehrere Kreise führen hin zur Mitte. Im Buddhismus sollen sie die Konzentrationsfähigkeit soweit steigern, dass der Mensch die geistige Grenze zwischen Körper-Identifikation und Raumerfahrung überschreitet. Konzentrische Kreise findet man in vielen Kulturen und auch in der christlichen Symbolik, etwa in Form des Heiligenscheins.
Ein Mandala in Wortform
“Für Isabel” ist ein wortgewordenes Mandala. Waclaw Slowacki ist Schriftsteller. In den sechziger Jahren unterhielt er eine Liebesbeziehung mit Isabel. Damals lebte er in Portugal. Es war die Zeit der Salazar-Diktatur, die Zeit des Estado Novo. Isabel, die sich als Studentin im Widerstand betätigte, verschwand eines Tages wie so viele andere in dieser dunklen Epoche der portugiesischen Geschichte. Nach etwa dreißig Jahren kehrt Slowacki nun nach Lissabon zurück, um nach seiner damaligen Gefährtin zu suchen. Angeblich soll sie sich in der Haft das Leben genommen haben, indem sie Glasscherben schluckte. Zunächst befragt Slowacki eine alte Freundin, die ihn an das damalige Kindermädchen Isabels verweist, das sich um das Mädchen gekümmert hat, nachdem seine Eltern umgekommen sind. Und so gelangt der Mann von einem Hinweis zum nächsten, von einer Person zur anderen. Jeder dieser Personen ist ein Kreis gewidmet und mit jedem dieser konzentrischen Kreise gelangt Slowacki näher ans Zentrum des Mandalas. Die Spuren führen ihn schließlich ins fernöstliche Macao und von da aus an die italienische Riviera.
“Literatur hat mit Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun”
Antonio Tabucchi, der 2012 in Lissabon verstarb, schrieb das Manuskript zu dem Roman bereits in den neunziger Jahren. Wie in seinem bekanntesten Roman “Erklärt Pereira” aus dem Jahr 1994 durchfliegt der Leser geradezu die Geschichte.
Als Slowacki in Macao ankommt, überrascht es jedoch sehr, dass die Handlung ins Surreale abdriftet, als sei es ganz selbstverständlich. Diese asiatische Passage ist eine Art magischer Realismus. Auf der Suche nach der Wahrheit, wird erkennbar, dass es die eine Realität, die eine Wahrheit nicht gibt. Die Literatur, die Geschichte selbst ist ein Weg zur Erkenntnis, die für jeden eine andere sein mag. Das klingt nach radikalem Konstruktivismus, den Paul Watzlawick der breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Auch dies ist interessant, wenn man sich die Ähnlichkeit der Namen des Protagonisten Waclaw Slowacki und Watzlawick anschaut. Und so in etwa beschrieb Tabucchi es auch: “Die Literatur ist für mich eine Wirklichkeit. Eine andere, als die, die wir wahrnehmen. Ich habe nie an den realistischen Roman geglaubt. Literatur hat mit Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, sagte Gertrude, aber das Wort Rose stimmt nicht mit der Blume überein, dazwischen liegt eine immense Distanz. Literatur und Schreiben sind eine andere Wirklichkeit, ein anderer Raum, was nicht bedeutet, dass sie weniger wahr wäre als das Alltägliche, was man immer vor sich hat.”
- Antonio Tabucchi: Für Isabel
- Mit einem Nachwort von Michael Krüger
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
176 Seiten, 9,90 EUR
ISBN 978-3-423-14448-3
Neuauflage am 23. Oktober 2015 - dtv
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