Katalonien in den Zwanziger Jahren. Als Conxa, Tochter armer Bauern in einem katalanischen Bergdorf, dreizehn Jahre alt ist, beschließen ihre Eltern, sie zur kinderlosen Tante in ein anderes Dorf zu geben. Für sie bricht eine Welt, die einzige ihr bekannte Welt, zusammen. Nie zuvor hat sie das Dorf verlassen. Nun soll sie für immer woanders leben. Auch wenn es nur ein paar Kilometer Entfernung sein werden. Die Dörfer sind schlecht erreichbar, Autos haben die Einwohner keine.
Mit den Jahren gewöhnt sie sich an das Leben dort bei der strengen Tante und dem wortkargen Onkel. Aus Fremde wird schließlich Heimat und eines Tages lernt sie Jaume kennen, den sie letztlich nach anfänglichen Widerständen der Familie heiratet. Jaume ist glühender Anhänger der Republikaner, kein politischer Aktivist, jedoch offenkundiger Gegner der Monarchie. Politik, König, Republik – all das sind Dinge, mit denen Conxa nichts anfangen kann, die in ihrem Kosmos keinen Platz haben neben der Erziehung der Kinder, der Arbeit im Haus und auf dem Feld. So wird die ländliche Idylle und die Freude über die Ausrufung der Republik ganz unerwartet durch den Militärputsch und den anschließenden Bürgerkrieg zerstört. Jaume wird verhaftet, Conxa samt ihrer beiden Töchter interniert.
Bis dahin hat sie in einer Art bäuerlichem Paralleluniversum gelebt. Die Vorgänge im gar nicht so weit entfernten Barcelona und die meuternden Soldaten und General Franco in Nordafrika – all das waren für sie Geschichten wie aus einer fernen Welt, einer Welt, die ihr Leben nicht betrifft. Spanien scheint zu dieser Zeit ein Land großer Ungleichzeitigkeiten zu sein. Während in den Städten die Revolution ausgerufen, die Wirtschaft der Herrschaft der Arbeiter unterworfen wird und Kollektiven gegründet werden, leben und arbeiten Menschen wie Conxa in ihren entlegenen Dörfern so wie es Generationen vor ihnen bereits taten. Der Fortschritt dringt zunächst nicht bis in die Bergregionen, erst der Bürgerkrieg bringt Veränderung. Es ist kaum vorstellbar, dass Conxa sich zur selben Zeit im selben Land befindet wie etwa George Orwell, der die Stimmung in Katalonien wie folgt zusammenfasst: „Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine.“ Auf den Feldern ist der Anarchismus genauso fern wie der Kapitalismus.
»Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgend jemand oder irgend etwas mich anstößt, werde ich mit den anderen fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoß versetzt, werde ich einfach hier bleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen.«
Conxa und ihre Töchter werden schließlich entlassen – Jaume kommt nie mehr nach Hause – kehren aber in eine Welt zurück, die ihnen fremd ist. Eine zerrissene Welt voller Argwohn und Misstrauen.
“Wie ein Stein im Geröll” ist Maria Barbals Debütroman, geschrieben in einer nüchternen, einfachen Sprache und auf Katalanisch. Auf gerade einmal etwas mehr als hundert Seiten schafft sie es, eine kleine Geschichte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren. Natürlich nicht in ausführlicher, detaillierter Form, sondern zu Momentaufnahmen verdichtet, die exemplarisch für ihre jeweilige Zeit stehen. Maria Barbal war eine der ersten Schriftstellerinnen, die im postfrankistischen Spanien das Schweigen über die Diktatur gebrochen haben. Darüber hinaus verlieh sie mit ihrem Roman denjenigen eine Stimme, die es selten in die Geschichtsbücher schaffen: die einfache, ländliche Bevölkerung in der Provinz. Eben jene, die oftmals eine komplett andere Geschichte erlebten.
Barbal, Maria
Wie ein Stein im Geröll
Aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum
Transit Verlag, Berlin 2007
125 Seiten
14,80 Euro