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Der Zorn | La Rabbia

Pasolini Der Zorn

Pier Paolo Pasolinis (fast) vergessenes Meisterwerk

Pasolini war einer der größten italienischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Er war der Intellektuelle Italiens. Und ein Poet. Oder wie Alberto Moravia auf Pasolinis Beerdigung sagte: “Abbiamo perso prima di tutto un poeta. E poeti non ce ne sono tanti nel mondo, ne nascono tre o quattro soltanto in un secolo.” (dt. Übersetzung: “Wir haben vor allem einen Poeten verloren. Und Poeten gibt es nicht viele auf der Welt, vielleicht drei oder vier werden in einem Jahrhundert geboren.”)

Aber P.P.P. war auch Romancier und Regisseur. Letzteres brachte ihm ebenso Weltruhm und Bewunderung wie Verachtung ein. Sein letztes Werk “Salò – Die 120 Tage von Sodom” ist in mehreren Ländern noch immer verboten. Ein Film, der eher selten als Teil seines Hauptwerkes genannt wird, ist die 1963 erschienene Dokumentation “La Rabbia – Der Zorn”. Der Film war damals ein Novum – zum ersten Mal verband ein Filmemacher Poesie mit dokumentarischen Bildern, vor allem aus Nachrichtensendungen, und verwebte diese zu einer neuen Narration, der die Frage vorangestellt war: “Warum ist unser Leben von Unzufriedenheit, von Beklemmung, vom Krieg und Kriegsangst beherrscht?”

“Perché la nostra vita é dominata dalla scontentezza, dall’angoscia, dalla paura della guerra, dalla guerra?”

Tod von Pio XII. und Wahl von Giovanni XXIII.
Illustration des sizilianischen Künstlers Guglielmo Manenti in der Ausgabe aus dem Verlagshaus Berlin

Pasolini, der sich zeitlebens als Marxist bezeichnete, wurde für den Film mit Giovannino Guareschi ein eher rechtskonservativer Journalist zur Seite gestellt, der den zweiten Teil drehte. Dem deutschen Publikum ist Guareschi vor allem als Schöpfer der Romanfiguren “Don Camillo und Peppone” bekannt. Pasolini war dadurch dazu gezwungen, seinen Film um etwa zwanzig Minuten zu kürzen. 2008 hat der italienische Filmkritiker Tatti Sanguinetti die Idee, einen Film zu produzieren, der dem eigentlichen Original möglichst nahekommen sollte. So wurden Teile des Drehbuchs rekonstruiert. Das Verlagshaus Berlin hat diesen Text nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung (Anna Giannessi und Jo Frank) veröffentlicht. Das eindrucksvoll gestaltete, fadengebundene Buch erschien in der Edition Revers und wurde vom sizilianischen Maler und Zeichentrick-Regisseur Guglielmo Manenti illustriert.

Pier Paolo Pasolini
Pasolini mit Bertolucci

Pasolini setzt in “Der Zorn” Fragmente des 20. Jahrhunderts kaleidoskopartig zusammen. Es reihen sich Berichte über die Befreiungsbewegungen in Nordafrika mit jenen der Aufstände in Ungarn und Prag und der Revolution auf Kuba aneinander. So entsteht eine künstlerische, historische Deutung Pasolinis, die mal mehr durch das Medium Bild, mal mehr durch den Text transportiert wird.

“Die Klasse, Besitzerin des Reichtums.
Zu so viel Vertrautheit mit dem Reichtum gelangt
dass sie die Natur mit dem Reichtum verwechselt.

So sehr in der Welt des Reichtums verloren
dass sie die Geschichte mit dem Reichtum verwechselt.”

Pasolinis sah die westlichen Gesellschaften schon früh auf dem Weg zur kulturellen Vereinheitlichung, die Menschen sich entwickeln zu willenlosen Konsumenten. Dies klagte er nicht nur in “Der Zorn”, sondern zahlreichen weiteren Werken an. Pasolini war unbequem und manch einem ein Dorn im Auge. So jährte sich sein Todestag im November bereits zum 45. Mal. In der Nacht zum 2. November 1975 wurde er ermordet, seine Leichespäter am Strand von Ostia gefunden, mehrfach mit seinem eigenen Wagen überfahren.

Pier Paolo Pasolini
Der Zorn

illustriert von Guglielmo Manenti
herausgegeben und übersetzt von Anna Giannessi

Verlagshaus Berlin, 2020
Edition ReVers
24,90 EUR

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