Dismatria. Diesen Begriff gibt es so im Italienischen eigentlich nicht. Manchmal wird die Autorin korrigiert und darauf hingewiesen: “Auf Italienisch sagt man espatriare, espatrio, ihr lebt also außerhalb eures Vaterlandes!” Dennoch bleibt Igiaba Scego dabei. Dismatria. Man könnte es mit Mutterlandlosigkeit übersetzen. Im gleichnamigen Buch, das kürzlich im nonsolo Verlag erschienen ist, beschreibt sie, was es heißt, mutterlandlos zu sein. Scego ist Tochter somalischer Einwanderer. Geboren und aufgewachsen in Italien, ist die Protagonistin ihrer Erzählung verhaftet in einem Dazwischen. Sie möchte gerne eine Wohnung kaufen. Eine Wohnung in Rom. Dort, wo sie seit eh und je lebt. Doch traut sie sich kaum, dies ihrer Mutter, ihrer Familie zu erzählen. Also nimmt sie Angelique mit, die einmal Angel hieß. Das sollte kein Problem sein. Was aber ein Problem ist, sind die Koffer.
“Ja, Koffer, ich schwöre. Diese quaderförmigen Dinger, in die wir unsere Sachen reintun, wenn wir irgendwo hinfahren müssen, weit weg normalerweise.”
In ihrer Familie gibt es keine Schränke. Dafür hat jedes Familienmitglied einen oder gleich mehrere Koffer. Es gibt die Redensart “auf gepackten Koffern sitzen”. Bei ihrer Familie ist das eine Lebenseinstellung. Seit Jahrzehnten leben sie in Italien, angekommen sind sie nie. Ihre alte Heimat Somalia haben sie verloren. Das Somalia, das sie verlassen haben, gibt es so nicht mehr. Dennoch sehnt sich die Familie zurück, will sich nicht festlegen. Deshalb Koffer. Deshalb ist es ein Problem, eine Wohnung in Italien zu kaufen. Wohnungen kauft man meist zu dem Zweck, darin zu leben. Dauerhaft.
Dismatria. Das ist eine Wortschöpfung von Igiaba Scebo. Ihr Vater war prominenter Politiker in Somalia. Nach dem Staatsstreich emigrierte die Familie 1969 nach Italien, wo Igiaba 1974 geboren wurde. Sie studierte an der Universität La Sapienza in Rom und wurde an der Universität Rom III in Pädagogik promoviert. Sie schreibt vorwiegend zu Migrationsliteratur und postkolonialen Themen.
„In Rom rennen die Leute immer, in Mogadischu rennen die Leute nie. Ich bin ein Mittelweg zwischen Rom und Mogadischu: ich gehe zügig.“
Leider bekommt man nur selten italienische Literatur aus einem migrantischen Blickwinkel zu lesen. Umso besser, dass der kleine Freiburger Verlag Scego in deutsche Buchhandlungen und Bücherregale bringt. Scego erzählt mit unheimlich viel Witz und einer guten Portion Selbstironie, um doch nachdenklich zu machen. Insbesondere, wenn man bei der Kombination der Begriffe “Italien” und “Migration” zunächst an die großen italienischen Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika, aber auch nach Deutschland denkt. Genau dieses Thema beleuchtet sie in der Erzählung “Als die Italiener keine Weißen waren”, denn “Weiß” das ist so wenig eine Farbe wie “Schwarz”. Beides sind soziale Konstruktionen.
“Weiß ist eine Gesamtheit von Privilegien, keine Hautfarbe. Weiß ist eine soziale Konstruktion.”
Und die Zugehörigkeit zu einem solchen Konstrukt kann sich mit der Zeit ändern. So wurden die italienischen Einwanderer in den USA nicht immer als Weiße betrachtet, wurden ausgebeutet und waren von Rassismus betroffen. “Italiener zu sein, war ein Problem; oft war es besser, sich als jemand anders auszugeben, um nicht Opfer von Rassismus zu werden.” Das beschreibt auch der italoamerikanische Schriftsteller John Fante. Oft waren Selbstverleugnung und Selbsthass die Folge. Das scheint Italien teilweise vergessen zu haben. Noch immer regelt ein anachronistisches Gesetz etwa die Staatsbürgerschaft, macht es Menschen schwer, Italien als Heimat und sich als ItalienerInnen zu sehen. Und doch bekennt sich Scego zu Italien: “Und wenn ich mich für eine Schublade entscheiden müsste, dann wäre es die der italienischen Schriftstellerin.” Das ist sie in der Tat – und zwar eine, von der wir noch viel Kluges erwarten dürfen.
Den drei Kurzgeschichten in der Mini-Anthologie ist ein ausführliches, Vorwort von Prof. Dr. Martha Kleinhans vom Institut für Romanistik an der Universität Würzburg vorangestellt.
Igiaba Scego
Dismatria und weitere Texte
nonsolo Verlag
Freiburg 2020
14,90 EUR