Der Jurist Christoph Möllers versucht in seinem Buch “Freiheitsgrade” in 349 Punkten das Wesen des Liberalismus darzustellen und nicht zuletzt zu verteidigen. Das Buch ist eines von acht nominierten Sachbüchern für den Deutschen Sachbuchpreis 2021.
Wer Liberalismus hört, mag an erster Stelle an die FDP, die sich ja selbst den Namen “Die Liberalen” gegeben haben, denken. Doch kann man Liberalismus wirklich auf Aspekte wie einen ungezügelten Kapitalismus, also eine (neo-)”liberale Wirtschaftsordnung” verkürzen? Natürlich nicht, warum sollte ich diese Frage sonst stellen. Im Kern ist der Liberalismus (von (lat. liber, libera, liberum: „frei“; liberalis „die Freiheit betreffend, freiheitlich“) eine Grundposition der politischen Philosophie und legt sich nicht auf ein bestimmtes politisches Lager fest. So gibt es durchaus liberale Positionen im rechten wie im linken Spektrum. Der Jurist Christoph Möllers versucht in seinem Buch “Freiheitsgrade” in 349 Punkten das Wesen des Liberalismus darzustellen und nicht zuletzt zu verteidigen. Das Buch ist eines von acht nominierten Sachbüchern für den Deutschen Sachbuchpreis 2021.
Was aber ist das Wesen des Liberalismus und von welcher Seite wird er bedroht? “Begehren ist ein liberales Grundgefühl, sei es als Freude an Nützlichkeit oder als Gier nach Reichtum. Das andere liberale Grundgefühl ist die Furcht, namentlich vor körperlicher Gewalt, die eigentlich Vereinzelte in die Vergemeinschaft treibt”, schreibt Möllers. Wollen liberale Menschen also ein möglichst hohes Maß an individueller Freiheit, gehen aber den Kompromiss ein, sich zusammenschließen zu müssen, um eben diese Freiheit zu verteidigen vor möglicher Repression. Das Dilemma ist, dass sie genau dabei ein Stück weit Freiheit abgeben. Aber Freiheit beginnt doch dort, wo es überhaupt erst die Möglichkeit gibt, dass dieselbe eingeschränkt wird. Gäbe es keine Regeln und Konventionen von außen, so wäre es doch obsolet über die eigene Freiheit zu diskutieren. Doch überall dort, wo Menschen zusammenkommen, wo sie in einer Gesellschaft leben, sind Regeln nötig, die ein solches Zusammenleben möglichst in Frieden, Sicherheit und Zufriedenheit ermöglichen. Das ist ein ständiger Balanceakt. Freiheit konstituiert sich durch Gesellschaft, und sie endet dort, wo sie die Freiheit anderer tangiert bzw. beschneidet. Ich kann natürlich als Bürger fordern, dass die Regierung sämtliche Corona-Maßnahmen beendet und wieder alle Freiheiten, die wir in präpandemischen Zeiten genossen, wieder zulassen. Doch schränkt dann nicht das Auskosten meiner persönlichen Freiheit die Freiheit derjenigen, denen Nachteile in Form von Infektionen entstehen? Riskiere ich durch Ausleben meiner Freiheit die Ausweitung einer Pandemie, die für viele Menschen nicht nur freiheitliche Einschränkungen, sondern Bedrohung von Leib und Leben bedeutet? Und gilt diese Freiheit eigentlich für jeden gleich – in einem Land, in dem etwa Chancen und Vermögen äußerst ungleich verteilt sind?
“Im Verfassungsrecht vieler liberaler Demokratien spielt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine wichtige Rolle. Die politische Gemeinschaft soll nur so weit in Rechte Einzelner eingreifen dürfen, wie dies im konkreten Fall zu rechtfertigen ist, um einen bestimmten Zweck zu erreichen”, schreibt Möllers. In unserem aktuellen Fall ist der Zweck das Eindämmung einer Pandemie von nationaler, nein internationaler, Tragweite. Niemand wird durch die Maßnahmen an Leib und Leben bedroht, zumindest nicht mittelbar. Dennoch trifft diese Pandemie nicht alle gleich. Menschen aus sogenannten “sozial schwachen Schichten” sind härter betroffen, infizieren sich häufiger, müssen unter widrigeren Bedingungen die durch die Corona-Maßnahmen bestehenden Einschränkungen durchleben. Für sie heißt eine Einschränkung der persönlichen Freiheit nicht das gleiche wie für Angehörige einer privilegierten Oberschicht. Und dennoch sind diese Ungleichheiten, diese mit unterschiedlichem Maß bemessene Freiheit, nur selten Thema sogenannter liberaler Politiker*innen. Vielmehr wird in liberalen Theorien “zwischen gebotenen und unerwünschten Formen der Ungleichheit unterschieden, zwischen der formellen politischen Gleichheit und der Gleichheit vor dem Gesetz einerseits und der Freiheit entspringenden sozialen Ungleichheit der Mittelverteilung andererseits.” Nun beim Geld hört der Spaß eben auf. Auch wenn Generationen von Menschen damit in ihrer Freiheit, sich zu gleichen Bedingungen zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben beschnitten werden. Bezugnehmend auf Harrison C. White und Stephen Holmes schreibt Möllers: “Soziale Ungleichheit hält eine Gesellschaft in Bewegung und ermöglicht es ihr, sich weiterzuentwickeln. Soziale Ungleichheit ist gemäß einer liberalen Lesart so lange in Ordnung, ja notwendig, wie sie weder echte Armut noch persönliche Abhängigkeit noch öffentliche Korruption schafft.” Den Punkt haben wir doch schon lange überschritten. Es ist immer die Frage, wie man Armut definiert. Armut beginnt nicht beim Verhungern. Armut existiert in Deutschland. Ebenso wie öffentliche Korruption. Aus den Folgen sozialer Ungleichheit ergibt sich laut Möllers die erste Krise des Liberalismus: “Psychische Erkrankungen, Gewalt, Drogenmissbrauch, schwache schulische Leistungen sind in ungleichen Gesellschaften insgesamt stärker verbreitet. Den Preis sozialer Ungleichheit zahlen größere Teile einer Bevölkerung, als offensichtlich ist.” Neben der Exklusion der Benachteiligten führt er als zweite Krise die Machtkonzentration bei Oberschichten an.
Häufig werden als Krise unserer liberalen Gesellschaft die zunehmende sogenannte “Cancel Culture”, die angeblich schwindende Meinungsfreiheit beschrieben. Sie war, ist und bleibt wohl auch aber die Ungleichheit. Es wird freier Wettbewerb gefordert, doch gibt es keinen Wettbewerb, bei dem alle gleichermaßen gewinnen und verlieren können. “Statt mit der Tatsache umzugehen, dass gesellschaftlicher Abstieg in einer liberalen Gesellschaft für alle eine unumgängliche Möglichkeit darstellt, wird allen Aufstieg versprochen, dieses Versprechen aber nicht gehalten. […] Die Krise der Gleichheit ist eine Krise der Meritokratie.” Das Märchen vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, ist und bleibt das, was es ist: ein Märchen. Die Realität ist für große Teile der Gesellschaft eine andere. Das reichste Zehntel der erwachsenen Bevölkerung verfügt laut Angaben des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) über etwa 67 Prozent des Gesamtvermögens. Die oberen fünf Prozent halten etwa 55 Prozent des Vermögens, das vermögendste eine Prozent der Bevölkerung etwa 35 Prozent und die Top-0,1-Prozent noch etwa 20 Prozent.
Und es wird nicht besser, denn für die eigene soziale Lage im späteren Leben sind vor allen Dingen die familienbedingten Startchancen von Kindern und Jugendlichen ausschlaggebend. Als Arbeiter*innenkind geboren, bleibt man in der eigenen Klasse verhaftet. Und schafft man den doch sogenannten Aufstieg, so ganz kommt man nie dort “oben” an.
Nun aber zurück zum Buch. Wer sich aus politologischer Sicht für das Thema Liberalismus, dessen Theorie und verschiedene Ausprägungen interessiert, dem sei das Buch von Christoph Möllers empfohlen. Weniger jedoch, wenn man sich mit tatsächlichen Problemen und Gefahren unserer liberalen Gesellschaft auseinandersetzen möchte, dafür werden in “Freiheitsgrade” zu viele Aspekte angerissen und nicht weiter beleuchtet.
Christoph Möllers
Freiheitsgrade – Elemente einer liberalen politischen Mechanik
Erschienen: 28.09.2020
edition suhrkamp
343 Seiten
18,50 EUR