Aus Geschichtsbewusstsein: Zukunftsvision: ein Erzählband
Gastbeitrag von Prof. Dr. Ursula Christmann
Zu den “Sisyphos-Chroniken” von Ben Roeg
Gegen die Apologeten des Vergessens (der Holocaust als ‚Vogelschiss‘ in der deutschen Geschichte) muss man das Bewusstsein der Geschichte aufrechterhalten, ohne Frage. Aber wie? Durch KZ-Besuche, historische Dokumentationen und Augenzeugenberichte? Sicher, aber es geht auch durch fiktionales Erzählen, bei dem die Leser/innen die Komplexität der geschichtlichen Ereignisse durch die Mehrschichtigkeit der Erzählstruktur selbst erfahren – und auflösen müssen.
So ist ein Band von drei Erzählungen ‚Die Sisyphos-Chroniken‘ (Autor: Ben Roeg) angelegt, bei dem es in der ersten Geschichte gerade um die Suche nach dem letzten lebenden Augenzeugen des Holocaust geht. Dabei tritt ein Panoptikum von symptomatischen Gestalten auf, die alle Folgen dieses Völkermords in Personifikation abbilden: von schuldbewussten Täternachfahren über Philosemiten und Holocaust-Forschern bis zu rechtsextremistischen Antisemiten und palästinensischen Kämpfern gegen Israel als den Staat der Juden etc. Alle treffen sich am vermuteten Rückzugsort des letzten Augenzeugen, der (dadurch?) nicht mehr Zeugnis ablegen kann. Was bleibt, ist einzig und allein das Geschichtsbewusstsein als unaufhebbare Verpflichtung.
Vergleichbar komplex schiebt die zweite Erzählung über ein erfolgreiches Attentat an einem faschistischen Diktator historische Realität und fiktionale Phantasie ineinander: indem Adolf Hitler sich zum antifaschistischen Attentäter entwickelt, der den italienischen Faschismus-Führer D’Annunzio ermordet – und damit Mussolini als dem ‚Duce‘ des italienischen Faschismus den Weg freimacht. Durch einen Tyrannenmord lässt sich also u.U. ein Genozid vermeiden, nicht aber der Faschismus schwächen, der als permanente Gefahr auch heute noch lebendig ist wie eh und je – die neuere (Parteien-)Geschichte in der Bundesrepublik zeigt es nur allzu deutlich!
Während die ersten beiden Parabeln eher in die Kategorie der negativen Utopien fallen, stellt die dritte ganz eindeutig eine positive Utopie vor: nämlich auf welche Weise das kollektive Böse des Völkermords mit seinen Folgen überwunden werden kann. Dazu wird in einem SF-Rahmen die Entwicklung des Protagonisten zu einer Menschheits-umspannenden Empathie psychologisch nachgezeichnet, die schlussendlich die versöhnende Mediation in einem interstellaren Konflikt ermöglicht, der die gleiche Struktur wie der heutige Israel-Palästina-Konflikt aufweist. Hier sind die Rückschaukapitel der Persönlichkeitsentwicklung mit der Beschreibung der interstellaren Mediation so ineinander verschachtelt, das im Endergebnis das (den ersten und letzten Satz bildende) Utopieprinzip kognitiv und emotional gleichermaßen eindrucksvoll erfahren wird: nämlich dass aus dem Leiden an der Welt die Kraft zur Überwindung allen Leids erwachsen kann und muss…
Ben Roeg
Die Sisyphos-Chroniken
custos verlag 2020
ISBN 978-3-943195-30-9
12,90 Euro