Klasse ist wieder im Diskurs angekommen. Und das ist gut und wichtig, es ermutigt Menschen, die von Klassismus betroffen sind, darüber zu sprechen, sich auszutauschen und dagegen anzugehen. Denn “Klassismus ausgesetzt zu sein, hat oft Schamgefühle zur Folge”, schreiben Riccardo Altieri und Bernd Hüttner in ihrem gerade in zweiter Auflage erschienenen Band “Klassismus und Wissenschaft“. Dazu kommen oftmals schmerzhafte Gefühle, Gefühle der Entfremdung, wenn man denn den sogenannten “Bildungsaufstieg geschafft” hat, wenn man sich “im Laufe der Zeit bewusst wird, dass man irgendwie dazwischen steht: Zwischen Herkunft und Akademie, zwischen Dialekt und Wissenschaftssprache.” Wer eine Klassenreise (nein, nicht Klassenfahrt!) hinter sich hat, als den Wechsel aus der Herkunftsklasse in einem beispielsweise akademische, der*die kennt meist auch Gefühle des Fremdseins, als gehöre man nicht so richtig dazu. Das kann sich auch ganz konkret bereits während des Studiums äußern, etwa wenn man bemerkt, dass es schwerer fällt, sich in universitären Kreisen zurechtzufinden als Kommiliton*innen aus akademischen Elternhäusern. “Während ich noch erstarrte, wenn ich nur das überfordernde Wort ‘Universität’ am Eingang zum Campus las, verabredeten sich die anderen schon zum gepflegten Kneipenabend. Da war ich erstmal außen vor. Später dann gab mir das Selbstbewusstsein der anderen subtil zu verstehen, dass ihnen der Raum mehr gehörte als mir”, berichtet beispielsweise der Autor Christian Baron, der in seinem Roman “Ein Mann seiner Klasse” von seiner Kindheit in prekären Verhältnissen erzählt.
In Kürze erscheint der von Baron und Maria Barankow herausgegebene Band “Klasse und Kampf” als ein “Manifest über die feinen Unterschiede, die eine Gesellschaft in oben und unten teilen.” Das Buch will vor allem eines sichtbar machen: Die Chancen auf Wohlstand und Bildung sind in Deutschland nicht für alle Menschen gleich. Hierzu schreiben 14 Autor*innen, darunter Martin Becker, Bov Bjerg, Anke Stelling oder Kübra Gümüsay uva., in persönlichen, autobiographischen Texten über “Herkunft und Scham, über Privilegien und strukturelle Diskriminierung, über den Aufstieg und das Unbehagen im neuen Milieu.” Häufig, so auch hier, wird über Klassismus aus einer persönlichen Perspektive heraus berichtet. Auf die Frage, ob es diese Stimmen braucht, um das Thema überhaupt erst sichtbar zu machen, antwortet Christian Baron: “Wenn Hartz 4 eine einzige gute Auswirkung hatte, dann diese: Es hat Armut in der Gesellschaft wieder sichtbarer gemacht. Wichtiger aber wäre, dass die Armen auch zu Wort kommen. Aber die Betroffenen können meist nicht für sich selbst sprechen. Denn diese Gesellschaft hält sie stumm, wenn sie die politisch korrekten, bürgerlichen Sprach- und Verhaltenscodes nicht beherrschen. Die Medienöffentlichkeit aller politischer Couleur rückt nur jene ins positiv besetzte Scheinwerferlicht, die sich gewählt ausdrücken können. Wer das nicht kann, sieht sich schnell dem Spott ausgesetzt, was sich täglich beispielsweise bei dem Fernsehsender RTL 2 beobachten lässt. Und selbst wenn sie sichere Räume finden, gibt es da ein Dilemma: Armut ist schambehaftet, weshalb Betroffene fast nie ohne Anonymisierung an die Öffentlichkeit treten wollen. Das verhindert Empathie bei denen, die ihnen zuhören sollen.
Also müssen die „Davongekommenen“ ran. Leute wie ich, die nicht mehr in Armut leben, aber aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, wirklich arm zu sein. Menschen wie ich müssen viel weniger Angst haben vor Beschämung und können so distunguiert über das Leben in Armut sprechen, wie es das bürgerliche Feuilleton verlangt. Das birgt freilich die Gefahr, von den Wohlmeinenden, die in Wohlstand aufgewachsen sind, zu Posterboys und -girls des Bürgertums degradiert zu werden, aber was bleibt uns anderes übrig? Weil die Lebenswelten, grob gesagt, der städtischen Akademiker und der ländlichen Nicht-Akademiker immer weniger Berührungspunkte haben, braucht es Stimmen, die aus eigener Anschauung widerlegen, was Politiker fast aller Parteien gern behaupten: nämlich, dass ein Leben mit Hartz 4 kein Leben in Armut bedeuten würde.”
Eine “Davongekommene” ist etwa auch die Autorin Lucy Fricke. Wie sehr die Herkunft noch heute spürbar ist, beschreibt sie in ihrem Beitrag in Klasse und Kampf: “Sie ist immer noch da, kommt in Wellen zurück, wenn ich von bildungsfernen Schichten lese oder, noch schlimmer, von einem Haushalt ohne Bücher. Sie ist aufgewachsen in einem Haushalt ohne Bücher. Dieser Zynismus bringt mich um den Schlaf.”
Was kann man als Betroffener von Klassismus tun? Was sollte sich in der Gesellschaft generell in diesem Zusammenhang ändern?
Es braucht aber auch einen Systemwechsl. In einem politischen System, in dem Menschen wie ich die Ausnahme bleiben sollen, wird der Zufall immer die entscheidende Rolle spielen müssen. Ich möchte in einer klassenlosen Gesellschaft leben. Wie kann es sein, dass der Mindestlohn so gering ist, dass viele in Vollzeit arbeitende Menschen staatliche Gelder brauchen, um über die Runden zu kommen? Wieso zahlen Großkonzerne fast keinen Cent an Steuern, Geringverdiener aber relativ viel? Warum erben die einen Vermögen und Immobilien, die anderen nichts? Mit welchem ethischen Recht entscheidet in einem demokratischen Staat wie Deutschland allein der Geburtszufall darüber, welche Lebenschancen ein Mensch hat? Das muss sich dringend ändern.”
Inwiefern ist Klassismus ein strukturelles Problem?
Wenn in der aktuellen Feuilletondebatte also der Vorwurf laut wird, das Reden von „Klassismus“ sei wischiwaschi, weil es dabei ja nur darum gehe, etwas netter zu Hartz-4-Emfängern zu sein anstatt Hartz 4 abzuschaffen, dann ist das eine wohlfeile Selbstbespiegelung. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wegen jahrzehntelanger Propaganda glauben tatsächlich sehr viele Menschen, Hartz-4-Empfänger seien faul und dumm. Diese Vorurteile zu widerlegen, ist der erste Schritt, um überhaupt ein Klassenbeewusstsein zu schaffen. Gleichzeitig muss es darum gehen, das zu bekämpfen, was diese Vorurteile hervorbringt: die kapitalistische Produktionsweise. Das eine schließt das andere nicht aus. Vielmehr bedingt beides einander.”
Wie bei allen oppressiven -ismen ist Kritik am Klassismus auch Herrschaftskritik, schließlich ist Klassismus eine Form der Unterdrückung. Anja Meulenbelt beschreibt in ihrem bereits 1990 erschienenen Buch Scheidelinien Unterdrückung „als System gesellschaftlicher Ungleichheit, bei dem man von einer nachweisbaren Dominanz der einen Gruppe von Menschen über eine andere sprechen kann. Diese Dominanz findet sich meist in den gesellschaftlichen Strukturen wieder, zum Beispiel in der Gesetzgebung, die einer Gruppe mehr Vorteile sichert als der anderen, in einer Arbeitsteilung, die der einen Gruppe eine bessere ökonomische Position bietet als der anderen, oder in einer Überrepräsentanz der dominanten Gruppe an den Orten, wo Entscheidungen getroffen werden (…). Diese Ungleichheit wird außerdem oft von der öffentlichen Meinung und der herrschenden Ideologie unterstützt, die Erklärungen dafür liefern, warum es ‚natürlich’ ist, daß eine Gruppe die bessere gesellschaftliche Stellung einnimmt als die andere. Bei dieser Definition von Unterdrückung ist es (…) wichtig, daß das System auf diese Weise funktioniert, auch wenn es per se nicht so beabsichtigt ist.“
Es geht hier um Machtgefälle bzw. Formen der Machtausübung, die bis in das Denken, in die Selbstverortung von Betroffenen hineinreichen. Zwang und Zustimmung werden politisch, ideologisch und ökonomisch kombiniert. Der italienische Marxist Antonio Gramsci spricht hier von Hegemonie als einem dynamischen Verhältnis zwischen sozialen Gruppen, zu denen Menschen jeweils mehrfach zugehörig sind.
Jan Niggemann, Erziehungswissenschaftler an der Uni Wien und unter anderem Autor in den beiden Bänden “Klassismus und Wissenschaft” und “Solidarisch gegen Klassismus”, erklärt dazu: “Klassismuskritik richtet sich deswegen auch gegen die Klassifizierung von Menschen, gegen die Zuordnung zu einer Klasse, Schicht oder einem Milieu, gegen die Festlegung auf eine Identität. Klassismuskritik bekämpft die Produktion von Fantasien über ›die anderen da unten‹. In der Popkultur wird Armut als faszinierende ›exotische‹ Unterhaltung benutzt; das Herunterschauen auf ›die anderen da unten‹ bringt Lust und ermöglicht die eigene symbolische Aufwertung. Klassismuskritik verdirbt also den Spaß an Klassismus. Klassismus und die Kritik daran haben eine unfreiwillige Gemeinsamkeit: Sie kommen oft ohne einen genauen Begriff von Klasse aus. Klassismus lässt sich als Diskriminierungsform kritisieren, auch ganz ohne Klasse zu erklären. Deswegen spreche ich von einem ›Klassismus ohne Klassen‹. Es gibt aktuell keine Arbeiter*innenklasse, die aus der Kritik an Klassismus eine politische Bewegung machen würde.” Die eigene soziale Lage determiniere nicht die politische Position oder Haltung, aber begrenze die Sicht auf das Gewohnte. “Klassismuskritik versucht, diese ungleichen Formen zu kritisieren und andere Bündnisse zu schaffen, indem die Ignoranz gegenüber klassenspezifischer Ungleichheit argumentiert wird.”
Nun kommt es immer wieder – aus unterschiedlichen Richtungen – zu Kritik am Klassismusansatz. Ein solcher Kritikpunkt ist etwa die Unterstellung, Klassismus sei lediglich ein postmodernes Konzept, da sich die Klassismusforschung schließlich Michel Foucaults Analysen bedient. Andreas Kemper kontert dem, indem er auf die Arbeit „Metamorphosen des Kapitals“ von Tino Heim verweist. Dieser legt dar, dass “Foucault relevante Fragen stellt, die von partei- und ableitungsmarxistischen Ansätzen vernachlässigt wurden. Dazu zählt neben den kritischen Analysen der Disziplinargesellschaft auch das kritische Aufzeigen von Denkschemen und Kollektivsymbolen. Damit soll kein neuer „Linguistic Turn“ in den Sozialwissenschaften eingeleitet werden – vielmehr ermöglichte erst die Ausblendung von Klassismus den Linguistic Turn. Zwar fand eine kritische Diskursanalyse in der Diskriminierungstheorie mit Blick auf Sexismus, Rassismus und Antisemitismus statt, klassistische Diskurse und Kollektivsymbole blieben aber weitgehend ausgeblendet.” (Kemper: Klassismus. Eine Bestandsaufnahme, FES 2016)
Auch von linker Seite kommt Kritik an der Auseinandersetzung mit Klassismus. So wird Menschen, die sich gegen Klassismus einsetzen vorgeworfen, sie seien nicht an einer tatsächlichen Änderung der herrschenden Verhältnisse interessiert. Brigitte Theißl, gemeinsam mit Betina Aumair Herausgeberin des Buches Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt, entgegnet darauf in einem taz-Interview: “Uns wurde vorgeworfen, dass wir gar keine Umverteilung fordern würden, sondern Betroffene nur netter behandeln wollen. Das ist ein Missverständnis. Mir geht es nicht darum, dass mehr Arbeiter*innenkinder aufs Gymnasium kommen, sondern, dass das Gymnasium abgeschafft wird, um ein gerechteres Bildungssystem zu schaffen. Antiklassistische Analysen können dabei helfen zu verstehen, wie Klassengesellschaft funktioniert.”