Rezensionen

Simon Stranger – Vergesst unsere Namen nicht

simon-stranger-vergesstunserenamennicht

“In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zwei Mal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie das Licht in einer Stadt, in der der Strom ausfällt. Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen. “

Vergesst unsere Namen nicht des norwegischen Autors Simon Stranger war eines der Bücher, die mich in der letzten Zeit am meisten beeindruckt haben. Die Romanhandlung findet auf drei Erzähl-Ebenen statt. Einerseits schreibt Stranger über die jüdische Seite der Familie seine Frau, über die Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Und immer wieder richtet er sich direkt an Hirsch Komissar, den Urgroßvater seiner Frau, der 1942 von den Nazis verhaftet und ermordet wurde. Der dritte Erzählstrang behandelt das Leben des Nazi-Kollaborateurs Henry Oliver Rinnan, der während der deutschen Besatzungszeit viele seiner Landsleute verriet, folterte und ermordete.

Der Nazi-Kollaborateur Rinnan

Henry Oliver Rinnan wurde 1915 als ältestes von acht Kindern im norwegischen Levanger geboren. Für einen Norweger ungewöhnlich, erreichte er lediglich eine Körpergröße von 1,61 Meter, was ihm wohl auch Zeit seines Lebens zu schaffen machte.

Henry Rinnan nach seiner Verhaftung 1945
Henry Rinnan nach seiner Verhaftung 1945

Nachdem Rinnan einige Zeit für seinen Onkel arbeitete, jedoch wegen Diebstahls entlassen wurde, meldete er sich freiwillig, um mit den Finnen gegen die Sowjetunion zu kämpfen, wurde jedoch als untauglich eingestuft. Anschließend war er nach Beginn der deutschen Invasion Norwegens als Lastwagenfahrer für die Norwegische Armee tätig. Im Sommer 1940 warb die GeStaPo Rinnan an, der von nun an als Denunziant für die Nazis tätig war (Sonderabteilung Lola). Das Haus in der Jonsvannsveien 46 in Trondheim, das Hauptquartier seiner Bande, bezog er schließlich im September 1943. Seine Gruppe, bekannt als Rinnanbanden, hatte mindestens fünfzig Mitglieder. Sie folterten und ermordeten zahllose Menschen, die mutmaßlich im Widerstand waren. Nach Kriegsende versuchte Rinnan nach Schweden zu fliehen, wurde jedoch gefangen genommen und vor Gericht gestellt. Am 1. Februar 1947 wurde er hingerichtet. Sein Leichnam wurde verbrannt und anonym begraben. Er gilt seinen Landsleuten als der meist verhasste Norweger. Und das aus gutem Grund.

Das Haus in Trondheim

In genau jenes Haus, in dem Rinnan und seine Bande gefoltert und gemordet haben, zieht nach dem Krieg die Familie von Strangers Frau. Während der Schwiegergroßmutter das Leben zunehmend schwerfällt, und sie es kaum aushält, in diesem Haus zu wohnen, sieht ihr Mann das Ganze recht pragmatisch. Das Haus ist groß und vor allen Dingen günstig. Nach und nach leben die beiden sich auseinander, bis er schließlich verkündet, dass er die Scheidung möchte.

Noch ein Buch über den Holocaust?

Stranger schreibt in einer recht einfachen, gängigen Sprache, so dass sich Vergesst unsere Namen nicht trotz der unterschiedlichen Erzählstränge und Zeitebenen durchaus flüssig und schnell lesen lässt und eine gewisse Sogwirkung erzielt. Es ist viel über die Shoah und über die Zeit des Zweiten Weltkrieges geschrieben worden. Jedes Buch ist ein kleines Mosaiksteinchen, um das Unbegreifliche des Holocaust ein wenig begreifbarer zu machen. Daher ist es für mich unverständlich, wenn etwa gefordert wird, einen Schlussstrich unter das Thema zu ziehen oder wenn Leser lamentieren, dass nun das x-te Buch über den Holocaust erschienen ist. Hier bekommen wir als Leser wieder eine neue Perspektive auf den Holocaust und erfahren etwas über die Situation in den damals durch die Nazis besetzten Gebieten. Wir sollten nie aufhören, über das, was damals geschehen ist, nachzudenken, zu forschen, zu schreiben und zu lesen. Allein schon aus dem Grund, um unserer und den nachfolgenden diese zwei Worte einzuimpfen: “Nie wieder!” Denn, auch wenn viele meinen, in der heutigen Zeit wäre so etwas nicht mehr möglich, sollten wir uns an die Worte von Primo Levi halten: “Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.”

Simon Stranger
Vergesst unsere Namen nicht
Aus dem Norwegischen von Thorsten Alms
Eichborn Verlag, 2019
350 Seiten
22,00 EUR

 

Kommentar verfassen

%d Bloggern gefällt das: